Das Unentfremdete selbst

Bunte Sehnsucht: Die Literaturverfilmung »Der geheime Garten«

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Welt der Erwachsenen ist grau, kalt und streng, die kindliche bunt, warm und ausgelassen - die Dichotomie ist alt und gebraucht genug, als dass man sich vor Darbietungen, die kindliche Fantasie und Unverdorbenheit feiern, nicht zu fürchten gelernt hätte, und zu Herbert Grönemeyers einschlägiger Forderung »Die Welt gehört in Kinderhände« ist Fanny Müller gelegentlich das Nötige eingefallen: »Mein Eindruck: Da ist sie schon.«

In sechs Wochen ist der erste Advent, und wer mit dem Vorweihnachtsprogramm den »Kleinen Lord« verbindet, weiß vielleicht gar nicht, dass die Buchvorlage von der englischen Schriftstellerin Frances Hodgson Burnett (1849-1924) stammt, die auch »Der geheime Garten« verfasst hat, ein Kinderbuchklassiker mindestens in der englischsprachigen Welt und bislang zehnmal für Kino und Fernsehen verfilmt. Marc Mundens Version ist die elfte, und vorderhand überraschend ist, dass der Erzählung um die zehnjährige Mary, die nach dem Tod der Eltern das koloniale (bunte, warme) Indien verlassen und aufs graue, kalte und strenge englische Schloss ihres Onkels übersiedeln muss, die Betonung des Fantasievoll-Fantastischen nicht schlecht bekommt. Der geheime Garten nämlich, von Marys Tante angelegt und nach deren Tod vom trauernden Witwer verschlossen und sich selbst überlassen, ist noch in der Regie Agnieszka Hollands von 1993 ein Park, dem sich mit gärtnerischer Tatkraft beikommen lässt und den also Mary mit kundiger Unterstützung ihres jungen Freundes Dickon nicht geradezu selbst zum Blühen bringt - das schafft, wichtig, die Natur allein -, aber doch so öffnet wie das Herz des Onkels und das ihres gleichaltrigen Cousins Colin, den der trauerkranke Vater der Welt nach eigenem Beispiel entzogen hat. Dass Mary einen Teich entkrautet und Blumen pflanzt, gibt dem Arrangement etwas geradezu Goethesches: der Mensch als sinnvoll tätiges, zwischen Natur und Geist vermittelndes Wesen. Der Garten, diese Allegorie des Lebens - und im Frühjahr eben: der Jugend -, bedarf hier keiner Übersteigerung; es genügt das Paradox jener eingehegten Natur, deren Unbändigkeit das Leben, das nicht lebt, ansteckt.

In Mundens Film nun ist der geheime Garten kein botanisches (und insofern politisches) Projekt mehr. Er ist eine Art Realfantasie, wie aus der lebhaften Imagination Marys in die Wirklichkeit gerutscht. Seine warme, zauberhafte, den Jahreszeiten nicht unterworfene Schönheit ist menschlichen Eingriffs nicht bedürftig, weil sie, wie idealisierte Kindheit, nicht von dieser Welt ist, und niemand käme auf die Idee, hier mit Blumenzwiebeln anzurücken. Als »magischer« Ort gleicht dieser Garten dem Unentfremdeten selbst, dem biblischen Paradies oder Blochs legendärer Heimat, und folgerichtig bedarf es in der Welt diesseits dieses hortus conclusus eines quasi-apokalyptischen Höllenfeuers, um die in ihrer kalten, grauen, strengen Welt eingekerkerten Erwachsenen empfänglich zu machen für das, was mit Erlösung wohl treffend bezeichnet ist. Dass sie die Welt im Anschluss neu errichten müssen, und zwar um Licht und Luft und Farbe herum, erspart Munden den Vorwurf, sich für Politik sowenig zu interessieren wie ein Publikum, auf das Kulturindustrie immer schon wartet.

»Der geheime Garten« in der jüngsten Interpretation ist also, bei aller Flamboyanz, gewissermaßen ein Endzeitfilm, und das rettet die Erzählung von der befreienden Fantasie und arglosen Tatkraft der Kinder vorm Kitsch. Das Zeitgenössische des Films, seine Buntheit (darin das finstre Grau des Schlosses eine Kontrastfarbe ist) und Suggestivität sind also nicht einfach Konzessionen an einen nach 30 Jahren neuerlich gewandelten und stärkeren Reizen zugetanen Publikumsgeschmack, sondern laden den Garten, übers plan Symbolische hinaus, derart transzendent auf, dass, ginge man mit den Kindern ins Kino, gar nicht leicht zu entscheiden wäre, wer hier wen begleitet. Es macht ja Sehnsucht nicht kleiner, dass sie wer bedient, und die unmissverständliche Grobheit der Bildsprache spricht das Allereinfachste als Zartestes aus: Utopie.

»Wie kann das sein, dass uns unsere Kinder lehren?« fragt Colin Firth als Onkel entgeistert, und dem Film gelingt es, anders als dem Untertitel des deutschen Verleihs (»Entfessle deine Fantasie«), das nicht nach dem schrecklichen »Pur«-Schlager vom kindlichen, hier bloß regressiven, letztlich hochreaktionären »Abenteuerland« klingen zu lassen: »Der Eintritt kostet den Verstand.« Mundens »Geheimen Garten« zu betreten kostet bloß eine Kinokarte.

»Der geheime Garten« : Großbritannien 2019. Regie: Marc Munden. Drehbuch: Jack Thorne. Mit: Dixie Egerickx, Colin Firth, Julie Walters, Edan Hayhurst, Amir Wilson.100 Minuten. Kinostart: 15.10.

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