Keynes’ Rückkehr

Die Dominanz des Neoliberalismus bröckelt. Ein Wirtschaftsrat der SPD mit profilierten Wissenschaftlern entwickelt jetzt alternative Strategien. Wie sie die politische Lage im Land sehen.

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 8 Min.

Wofür die SPD steht, ist auch 15 Jahre nach der neoliberal geprägten Agenda 2010 und nach elf Wechseln an der Parteispitze seit dem Abtritt von Gerhard Schröder im Jahr 2004 nicht so richtig klar. Von den Hartz-Reformen sind die Sozialdemokraten via Parteitagsbeschluss etwas abgerückt. Eine ökonomische Gesamtstrategie ist aber nicht erkennbar - mal stimmt die SPD für die Schuldenbremse, mal beschließt sie gigantische Konjunkturprogramme.

Wofür Gustav Horn steht, ist klar. Der Professor für Volkswirtschaftslehre ist einer der führenden Keynesianer Deutschlands, seine wirtschaftlichen Analysen und Politikempfehlungen unterscheiden sich fundamental von neoliberalen Vorstellungen. Er hält anständige Löhne für ökonomisch günstig, den Sozialstaat für finanzierbar und staatliche Kreditaufnahmen je nach Lage der Dinge für geboten. Über Jahre hat er sich als Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in die öffentliche Debatte eingemischt.

Nach seinem Ausscheiden aus dem IMK aus Altersgründen wurde er Ende 2019 in den SPD-Vorstand gewählt, wo er ein ehrgeiziges Projekt startete: Er hat einen hochkarätig besetzten Beirat der SPD zusammengestellt, der eine wirtschaftspolitische Gesamtstrategie für die Partei entwickeln soll - und damit auf einem wichtigen Feld helfen soll zu klären, wofür die SPD steht. Für das Gremium hat er profilierte Ökonomen wie den ehemaligen »Wirtschaftsweisen« Peter Bofinger und Jens Südekum gewonnen (siehe Infokasten).

Die Prinzipien, an denen sich der Beirat orientiert, beschreibt Horn so: »Wir lassen uns von dem Gedanken leiten, dass wir einen stabilisierenden und gestaltenden Staat brauchen«, sagt er »nd.Die Woche«. Dabei gehe es insbesondere um die Gestaltung der Digitalisierung und die Förderung einer nachhaltigen - ökologischen und sozialen - Produktion. Das klingt allgemein, würde jedoch faktisch eine Abkehr von neoliberalen Dogmen bedeuten, nach denen sich der Staat aus der Wirtschaft eher heraushalten sollte. Horn nennt das Paradigma, an dem sich der Beirat orientiert, »Keynesianismus Plus«.

Die Bedingungen für das Vorhaben sind nicht schlecht, denn die Dominanz des Neoliberalismus bröckelt. Diese Ideologie hat über Jahrzehnte eine ungeheure Macht entfaltet. Seit den 80er Jahren haben konservative Regierungen in den USA und Großbritannien ihre Politik danach ausgerichtet, der Internationale Währungsfonds hat sie Ländern im Globalen Süden aufgezwungen, später haben auch sozialdemokratische Regierungen die Wirtschaft marktliberal umgekrempelt. So hat die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder Steuern gesenkt, Renten gekürzt und die Agenda 2010 beschlossen.

Diese Politik wurde dabei meist nicht neoliberal genannt, was die Möglichkeit impliziert hätte, dass es andere Strategien gibt. Sie hatte vielmehr gar keinen Namen, sondern wurde von Regierungen durchgedrückt unter dem Schlagwort: Es gibt keine Alternative.

Löhne in der Krise senken?

Doch die Zeiten haben sich geändert. In der Wissenschaft sehen gerade Jüngere den Neoliberalismus kritisch. Südekum verortet sich etwa im internationalen keynesianischen Mainstream. Politisch widerspricht der weltweite Protektionismus neoliberalen Vorstellungen, und die Konjunkturprogramme in der Wirtschaftskrise 2008/2009 folgten gerade in Deutschland keynesianischen Vorstellungen. Das letzte neoliberale Großprojekt in Europa, die Austeritätspolitik in der Eurokrise, konnte nur mit massivem Druck durch die EU-Einrichtungen Ländern in Südeuropa aufgezwungen werden.

In der jetzigen Pandemie haben Regierungen schon wieder keynesianisch inspirierte Konjunkturprogramme aufgelegt - und viele Menschen in Deutschland zeigen sich zufrieden mit dem Krisenmanagement.

Für die SPD gibt es also deutlich weniger Gründe, marktliberalen Ratschlägen zu folgen. Gleichzeitig ist es in einer derart offenen Situation eher möglich, mit einer schlüssigen wirtschaftspolitischen Strategie durchzudringen, die im Keynesianismus verankert ist.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes ist bekannt durch seine Antikrisenstrategie, die er in den 30er Jahren entwickelt und die nach dem Zweiten Weltkrieg die Wirtschaftspolitik stark beeinflusst hat. Hintergrund war damals die Weltwirtschaftskrise 1929 mit massiv steigender Arbeitslosigkeit. Nach der reinen neoklassischen Lehre müssen in einer solchen Lage die Löhne und Preise sinken, damit Firmen mehr billige Arbeitskräfte nachfragen und Konsumenten mehr billige Produkte kaufen. Tatsächlich sanken nach 1929 Löhne und Preise drastisch, in Deutschland um mehr als 20 Prozent. Doch damit verschlimmerte sich die Situation nur noch.

Keynes hat damals als Erster eine theoretische Erklärung dafür entwickelt, warum Lohnsenkung in Krisen nichts nützt und stattdessen der Staat eingreifen muss. Eine seiner Kernbotschaften lautet: Damit die Beschäftigung wieder steigt, muss die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigen. Doch Unternehmen erhöhen nur dann Produktion und Investitionen, wenn sie erwarten, dass sie die Waren auch absetzen können. Wenn sie wegen der Krise skeptisch oder gar panisch sind, halten sie ihr Geld zusammen. Aus dieser Abwärtsspirale kommt man nur heraus, wenn jemand dagegenhält. Das kann im Grunde nur der Staat, indem er investiert und konsumiert. Genau diese Strategie wurde in der Wirtschaftskrise 2008/2009 und jetzt in der Pandemie von vielen Ländern verfolgt.

Keynes war nicht links, er war ein Kapitalist, dem es darum ging, die Wirtschaft zu stabilisieren. Doch eine keynesianische Politik genügt gerade in Krisen sozialdemokratischen Werten, meint Horn: »Sie schafft Freiheit der Menschen von materieller Not, sie ist gerecht, weil Arbeitnehmer meist nichts für die Krise können, und sie ist solidarisch, weil man denjenigen hilft, die Probleme haben.«

Für Keynesianer sind jedenfalls anständige Löhne und angemessene Gehaltszuwächse gut für Beschäftigte und gut für die Wirtschaft. Zwar erhöhen sie die Arbeitskosten für das jeweilige Unternehmen, gleichzeitig tragen sie aber dazu bei, dass Firmen in moderne Anlagen investieren, um die Produktivität zu erhöhen. Zudem steigern Gehaltszuwächse die Nachfrage und führen dazu, dass Unternehmen mehr Güter verkaufen.

Fabriken für darbende Regionen

Zu einer keynesianischen Politik gehört für Horn daher auch, Beschäftigte und Gewerkschaften zu stärken, »damit sie auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern verhandeln können«. Mit dem Mindestlohn ist die SPD einen Schritt in diese Richtung gegangen; und in ihrem Parteitagsbeschluss hat sie sich darauf festgelegt, Arbeitslosen weniger Druck zu machen und tarifgebundene Betriebe steuerlich besserzustellen.

Ältere Keynesianer wie er hätten sich eher auf die Stabilisierung der Wirtschaft fokussiert, sagt Horn. »Die Perspektive der Jüngeren ist breiter, und wir Älteren tun gut daran, auch unseren Blickwinkel zu erweitern.« Damit spielt er auf den zweiten Leitgedanken des Gremiums an: Die Politik soll die Wirtschaft gestalten.

Jens Südekum, der zu den Jüngeren im Beirat gehört, befasst sich etwa mit regionaler Entwicklung und der Frage, wie man unter dem Strukturwandel leidende Gegenden revitalisieren kann. Er plädiert dafür, dass Kommunen verlässliche Investitionsmittel haben, die nicht von Konjunkturzyklen abhängig sind. Heute sei es oft so, dass Kommunen in mageren Zeiten zuerst bei den Investitionen sparen, etwa beim Breitbandausbau. In Boomzeiten schreiben sie dann wieder viele Aufträge aus, doch dann sind die Handwerker hoffnungslos überlastet.

Der Volkswirt hält auch Industriepolitik für sinnvoll und nennt als ein Beispiel, die Batteriezellenproduktion in Braunkohleregionen zu fördern. »Eine beherzte Industriepolitik ist gefährlich, die Politik kann viele Fehler machen«, sagt er. Zum Beispiel auf eine Technologie setzen, die sich später als Rohrkrepierer entpuppt. Allerdings wäre es für ihn auf jeden Fall ein Fehler, darbende Regionen einfach darben zu lassen, nach dem Motto: Es gibt halt immer Gewinner und Verlierer.

Ein gestaltender Staat sollte Anreize für eine nachhaltige Produktion setzen, ergänzt Horn. »Wir sollten zum Beispiel Autozulieferern Investitionshilfen geben, um ihnen die Umgestaltung ihrer Produktion zu erleichtern - ohne dass sie Menschen entlassen. Das ist eine Kernaufgabe der Sozialdemokratie.«

Politiker entmachten sich selbst

Ein Staat, der die Wirtschaft stabilisiert und gestaltet, braucht ausreichend Finanzmittel. Das beißt sich mit der Schuldenbremse. Viele Volkswirte innerhalb und außerhalb des Beirats lehnen diese denn auch ab. »Diese Vorgabe ist ohne ökonomischen Sinn und Verstand«, sagt Südekum. »Sie ist zu starr, weil sie unabhängig davon gilt, wofür Geld ausgegeben wird, wie hoch die Zinsen sind und wie hoch die Gesamtverschuldung ist. Und sie strahlt ein extremes Misstrauen gegenüber der Demokratie aus - als ob Politiker alle fiskalpolitischen Spielräume sofort missbrauchen würden.«

Nun hat die SPD zusammen mit der CDU die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben, was es schwer macht, sie wieder loszuwerden. Was tun? »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten sich schnell darauf einigen, dass die Schuldenbremse in dieser Form obsolet ist«, sagt Horn. »Das ist schön und gut, aber damit hat man noch nichts bewirkt.« Deshalb hat er in den Beirat auch Politikerinnen und Politiker geholt, etwa Wolfgang Schmidt, den Staatssekretär von Finanzminister Olaf Scholz, sowie Bundestagsabgeordnete wie Cansel Kiziltepe, die die Schuldenbremse in der jetzigen Form ablehnt. Sie kennen die Logiken in der politischen Sphäre, wo die magische Formel von der sparsamen schwäbischen Hausfrau noch verfängt. Zusammen mit ihnen will Horn die Debatte vorantreiben und ausloten, was nicht nur wissenschaftlich gut begründbar, sondern auch politisch möglich ist.

Gerade für die SPD wäre eine Abkehr von der Sparpolitik wohl schwierig, weil ihr immer noch unterstellt wird, nicht mit Geld umgehen zu können. Dieser Vorwurf geht zurück auf die 70er Jahre, als die SPD bei hohen Zinsen die Verschuldung ausweitete, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. »Das war ein Fehler, aber das hat die SPD seither nie wieder so gemacht«, betont Horn. Der Vorwurf sei politisches Kalkül. »Die Kritiker einer Verschuldung meinen eigentlich, dass sich der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen sollte. Sie kritisieren die Defizite, die man durch Ausgabenkürzungen, etwa im Sozialbereich, vermindern soll. Wenn die Steuereinnahmen dann wieder gut laufen, fordern sie Steuersenkungen.«

Doch Bofinger ist optimistisch: »Ich bin überzeugt, dass die Schuldenbremse auch im Jahr 2022 in irgendeiner Art und Weise außer Kraft gesetzt wird. Andernfalls müsste der Staat sogar Überschüsse machen. Das wird nicht möglich sein. So starke Steuererhöhungen wird keine Regierung beschließen. Die Politik kann auch nicht so massiv sparen, denn der Bedarf ist zu groß, etwa für Kinderbetreuung oder die Transformation der Industrie. Das ist eine Chance. Man wird sehen: Die Schuldenbremse funktioniert nicht.« Damit wäre eine Hürde für keynesianische Wirtschaftspolitik weggeräumt.

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