Chinas neuer Normalbetrieb

Die Wirtschaft der Volksrepublik wächst trotz Corona wieder um 4,9 Prozent

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.

In Pekings Innenstadt zeigt sich dieser Tage auf geradezu beeindruckende Weise die neue Normalität im Land: Dutzende Bagger und Kräne werken auf dem Gelände des alten Arbeiterstadions, um eine hochmoderne Fußballstätte für die Asienmeisterschaften im Jahr 2023 aus dem Boden zu stampfen. Nur einen Steinwurf entfernt strömen Kunden in den weltweit größten Adidas-Flagship-Store im Einkaufsviertel Sanlitun. Und mittendrin lärmt der Wochentagsverkehr in der 12-Millionen-Metropole wie eh und je: Lieferkuriere schlängeln sich auf den Trottoir zwischen Menschenmengen durch, schwarze Limousinen stecken im Feierabendstau fest.

Der Eindruck einer brummenden Wirtschaft wird von den am Montag von der Regierung publizierten Zahlen untermauert: Gut ein halbes Jahr nach den massiven Lockdowns in der Volksrepublik ist die Wirtschaft im dritten Quartal um 4,9 Prozent gestiegen - und befindet sich damit wieder auf Vorkrisen-Niveau. Rechnet man den nahezu vollständigen Stillstand vom Frühjahr mit ein, so ist das Bruttoinlandsprodukt in den letzten neun Monaten dennoch bereits um 0,7 Prozent gestiegen. Chinas Erholung habe sich ausgeweitet und sei mittlerweile weniger auf Investitionsanreize angewiesen, heißt es in einer ersten Analyse der Wirtschaftsforschungsberatung Capital Economics mit Sitz in London.

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Ganz gleich, welchen Parameter man heranzieht, der Trend zeigt in Richtung schneller Erholung: Die Exporte sind im September im Jahresvergleich um 9,9 Prozent gestiegen, die Importe gar um 13,2 Prozent. Die Verkäufe im Einzelhandel legten um 3,3 Prozent zu, die Industrieproduktion um knapp sechs Prozent. Laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird China damit als einzige Volkswirtschaft weltweit 2020 mit 1,9 Prozent ein Plus verbuchen können. Zum Vergleich: Die Eurozone wird nach Angaben des IWF um 4,3 Prozent schrumpfen, Deutschland gar um sechs Prozent.

Der ökonomische Erfolg des Reichs der Mitte inmitten der Coronakrise lässt sich nur durch die zuvor getroffenen Maßnahmen verstehen: Als eines der wenigen Länder hat China das Infektionsgeschehen seit Monaten auf nahezu null gedrosselt. Doch im Vergleich zu Taiwan oder Neuseeland, die die Pandemie derzeit ebenfalls überwunden haben, verfügt China über einen sich zunehmend selbst erhaltenden Markt von knapp 1,4 Milliarden Menschen. Damit ist das Land weitaus weniger anfällig für die Einbrüche des internationalen Handels.

Zu Beginn des Jahres, als das Coronavirus noch unkontrolliert in der Provinz Hubei wütete, führten die Behörden die weltweit wohl drakonischsten Lockdowns ein, die die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung zutiefst beschnitten und zu einem nahezu vollständigen Stillstand der Wirtschaft führten: Millionen Menschen standen über Monate wortwörtlich vor versiegelten Wohnungstüren und wurden ausschließlich von Nachbarschaftskomitees mit Lebensmitteln versorgt. Gleichzeitig schloss die Volksrepublik ihre Landesgrenzen für ausländische Staatsbürger und verhängte strenge Quarantänemaßnahmen für Einreisende, die 14 Tage lang unter ständiger Überwachung in staatlich zugewiesenen Hotelzimmern verweilen mussten. Hunderttausende im Ausland gestrandete Bürger, die einen festen Wohnsitz in China haben, mussten teils mehr als ein halbes Jahr warten, ehe sie überhaupt zurückkehren durften - trotz negativer Covid-19-Tests.

Dementsprechend massiv fiel der Wirtschaftseinbruch im ersten Quartal aus: Um 6,8 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt laut offiziellen Zahlen geschrumpft, so stark wie zuletzt gegen Ende der Kulturrevolution in den 1970er Jahren. Inzwischen nahezu virusfrei konnte das Land seine Wirtschaft wieder hochfahren: Schulen, Büros und Einkaufszentren sind seither wieder vollständig in Betrieb. Die im April wieder geöffneten Fabriken litten zwar zunächst unter der eingebrochenen Nachfrage aus dem Ausland, allen voran aus Europa. Doch systematisch passten sich chinesische Konzerne an die neue Situation an: Textilfabriken produzierten fortan Gesichtsmasken, Dutzende Betriebe kurbelten die Produktion von Desinfektionsmitteln oder medizinischer Ausrüstung an.

Während die Industrieproduktion bereits seit Monaten auf Normalniveau läuft, zog der Binnenkonsum erst im Spätsommer wieder an. Das Vertrauen der Konsumenten kehrte also erst allmählich zurück, nachdem das Infektionsrisiko über einen längeren Zeitraum gering blieb. Seither hat sich sogar der Tourismus einigermaßen erholt: Während der Nationalfeiertage in der ersten Oktoberwoche tätigte die Bevölkerung laut dem Kulturministerium knapp 640 Millionen Reisen und generierte einen Umsatz von umgerechnet fast 59 Milliarden Euro. Das sind immerhin etwa drei Viertel des Vorjahresniveaus.

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