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Ausbeuter gesucht

Kapitalismus als Party mit üblem Ende? Das Volkstheater Rostock bringt den Brecht-Klassiker »Herr Puntila und sein Knecht Matti« als Gegenwartsparabel auf die Bühne

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Cheerleader des Kapitals sind immer dabei. Fünf Grazien in Pink mit Goldlametta oder wahlweise auch roten Luftballonherzen verwandeln die Realität in ein großes Rauschen. Sie umtanzen Herrn Puntila (Macho mit Jekyll-und-Hyde-Spaltung: Frank Buchwald), der seinen doppelten Rausch lebt. Wenn er nüchtern ist, dann erwacht der Machttrieb in ihm, dann sieht er nur Zahlen, die von Gewinn und noch mehr Gewinn. Dann sind ihm Menschen - auch sein ihm unentbehrlicher Knecht, der Fahrer Matti - bloße Kostenfaktoren, deren es sich zu entledigen gilt. Dieser überaus beschränkte Mann ist ein von innerer Leere getriebener Machtbold, der als Antreiber seiner Knechte den Existenzbeweis seiner selbst zu erlangen sucht.

Wenn Puntila betrunken ist, dann jedoch erwacht der Mensch in ihm - er schwimmt in weichem Sentiment, sein Herz wird weit und er verbrüdert sich mit der ganzen Menschheit. Und der eben noch entlassene Matti ist ihm wieder ein unentbehrlicher Freund. Puntila betrinkt sich oft, das ist ihm wie eine Erlösung auf Zeit vom harten Schicksal, ein Kapitalist zu sein. Doch da den trunkenen Phasen zuverlässig die nüchternen folgen, bleibt alles wie immer: Puntila als launischer Herr und Matti als stoischer Knecht, der jede Laune aussitzt.

Aber sollte da nicht - siehe Hegels Abschnitt aus der »Phänomenologie des Geistes« zu Herr und Knecht als Formen des Bewusstseins - ein Rollentausch stattfinden? Angewandte Dialektik heißt, dass das aktive Bewusstsein des Knechts das passive des Herrn verdrängt? So legte auch Volker Braun einst seinen »Hinze-Kunze-Roman« an. Allein der Fahrer des Funktionärs weiß am Ende, also dann, wenn der Funktionär im Fond des Autos bloß noch eine Behauptung von Macht darstellt, wo es lang geht.

Aber bei Brecht bleibt das Verhältnis zwischen beiden provozierend unklar - ob es dem Knecht Matti gelingt, sein eigener Herr zu werden, scheint ungewiss. Schon Frank Castorf hatte in seiner Nachwendeinszenierung des Stücks - aus der damaligen historischen Erfahrung heraus - das Rollenverhältnis so gelassen, wie es am Anfang vorgegeben war: die Befreiung des Knechts - des doppelt freien Lohnarbeiters, der täglich seine Haut zum Markte tragen muss - gelingt nicht, denn der Herr hat sich etwas einfallen lassen und unterschiebt dem Knecht, dem er Eigentum weiterhin vorenthält, alle möglichen Surrogate - vor allem Unterhaltung und Konsum. Er unterdrückt ihn nicht mehr (oder nur noch selten) mit brutaler Gewalt, er verführt den Knecht zur Selbstausbeutung!

Über der ziemlich steilen Bühnenschräge flimmern die Leuchtbuchstaben (natürlich auch sie in Pink): »Kapitalismus ist geil.« Geht eine der Birnen kaputt, wird sie umgehend ausgewechselt; von solchen Handicaps lässt man sich hier nicht die Laune verderben. Denn das ist die Puntila-Matti-Ausbeutungsorgie am Rostocker Volkstheater in der Regie von Elina Finkel: eine nicht endende Party. Die Feiernden scheinen zwar irgendwie tot, zumindest scheintot, aber der Maschinerie ist das egal.

Die Musik, die man eigentlich von Paul Dessau erwartet (und enttäuscht wird, weil sie unerklärlicherweise ausbleibt), ist hier die Variation eines einzigen Popsongs, der ein kurz gefasster Bericht zu Lage der Arbeitenden heute sein könnte: »Money, Money« - Disco-Animation von Abba und Motivationstraining mit »Cabaret«? Wem gehört der Hit nochmal? Eigentum ist bekanntlich immer Diebstahl.

Brutale Gewalt also war gestern (und wird vielleicht auch wieder morgen), heute aber muss man niemanden mehr dazu zwingen, Knecht zu werden. Man tanzt seit jeher gern ums goldene Kalb. Der Praktikant, der »freie« Mitarbeiter - sie alle sind dem Herrn doch unendlich dankbar dafür, dass er sie zum Knecht macht, der mit ihnen Geld und immer mehr Geld verdient. Und was bekommt der Knecht? Das nie eingelöste Versprechen, er könnte auch einmal ein Herr werden, wenn er sich nur als eifriger, sich grenzenlos selbstausbeutender Knecht erweise.

Das Schauspielensemble des Volkstheater Rostock ist inzwischen so herunter gespart (etwa ein Dutzend Schauspieler gehören noch dazu, das sind wenig mehr als die Hälfte der an anderen Theatern dieser Größe üblichen Zahl), dass man sich wundert, dass hier solch eine große Produktion überhaupt stattfindet. Ohne fünf Studentinnen der Rostocker Hochschule für Musik und Theater als grandioser Allzweckchor in postmoderner Auflösung, der so präzise agiert, dass es eine Freude ist (Kea Krassau ragt als Figurine des epischen Theater dabei noch heraus), ginge das auch nicht - und schon wird Kooperation zur Falle: Ausbildung und Ausbeutung in Symbiose.

Die Regie von Elina Finkel setzt stark auf formale Elemente, forciert so die Farce in der Tragikomödie. Das scheint richtig, um dem drohenden Lehrstückcharakter eine eigene unberechenbar-groteske Dynamik des Spiels entgegenzusetzen. Ging es nicht auch Brecht um die Verbindung von Aufklärung mit Unterhaltung? Und wie sie spielen, diese Übriggeblieben! Steffen Schreier schleicht sich wie ein Mörder bei Nacht in den Chor der Bräute, denen der trunkene Puntila sämtlich zu viel versprochen hat. Nun rumort hier eine derangierte, ausrangierte Braut mehr.

Hinreißend Bernd Färber als Attaché, ein gummigleicher Opportunist, den keine noch so heftige Demütigung dazu bringt, die Hochzeit mit Puntilas Tochter Eva (energisch: Katharina Paul) aufzugeben. Das ist einer, der sich für jeden neuen Fußtritt wieder höflich bedankt, solange er nur im falschen Spiel bleibt. So erhoffen sie hier alle etwas, das sie wieder frei macht. Ein Gefangenenchor der anderen Art scheint dies, so wie man ihn in überanstrengten Wochenendworkshops zur Selbstoptimierung vorfindet. Dummheit, die sich klüger dünkt.

Luis Quintana (Sohn des chilenischen Exilanten Alejandro Quintana, der als Schauspieler und Regisseur am Rostocker Volkstheater ab Mitte der 70er Jahre für Furore sorgte) ist Knecht Matti. Er spielt ihn umstandslos direkt, eine Servicekraft ohne jede Illusion. An Puntila verschwendet er keinen Gedanken mehr als nötig. Da bleiben dann tradierte Aufführungswege zurück. Dieser Matti will Puntila nicht stürzen, sich nicht an seine Stelle setzen - er beutet ihn bloß seinerseits aus, macht ihm so das Kalkül streitig, das Puntila im Trunke immer wieder abhanden kommt. Eine Schwäche, die es zu nutzen gilt. Oder ist auch das nur wieder Selbstbetrug?

In Coronazeiten - statt fünfhundert sind nur gut hundert Zuschauer im Großen Haus - ist dies mit fast drei Stunden eine geradezu opulente Inszenierung, klug choreographiert und keine Sekunde langweilig, was nicht allein an der vorherrschend grellen Farbe des Abends - Pink! - liegt, sondern an der aufschlussreichen Lesart dieses Brecht-Klassikers über Ausbeuter und Ausgebeutete. Sie folgt dabei der Schrift »Kapitalismus und Todestrieb« von Byung-Chul Han, in der es heißt: »Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst ... Man problematisiert sich selbst statt die Gesellschaft.«

Nächste Vorstellungen: 30. Oktober sowie 6., 22. und 27. November.

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