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35 Missbrauchsfälle pro Tag

Die Bundesregierung setzt beim Thema Sexuelle Gewalt gegen Kinder auf Strafverschärfungen

»Sexuelle Gewalt ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern Alltag für tausende Kinder und Jugendliche«, heißt es im »Positionspapier 2020 - Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen« des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, dem Amt der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen und Angehörigen sowie Personen und Organisationen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren.

Die Fakten hinter der Feststellung, die das Papier aufführt: Mehr als 13 000 den Ermittlungsbehörden gemeldete Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs im Jahr 2019. »Das sind mehr als 35 Missbrauchsfälle pro Tag«, wird verdeutlicht. Hinzu kämen »mehr als 1000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen, mehr als 12 000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, sogenannte Kinderpornografie, und mehr als 3000 Fälle des Einwirkens auf Kinder mittels digitaler Medien, sogenanntes Cybergrooming.«

Das sind allerdings nur die bekannt gewordenen Fälle. Das Dunkelfeld sexueller Gewalt sei enorm, und nur wenige Missbrauchsfälle würden bekannt und die meisten Taten weder aufgedeckt noch angezeigt, stellt das Papier fest. Die Weltgesundheitsorganisation gehe für Deutschland »von einer Million Kinder und Jugendlicher aus, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren. Das sind ein bis zwei Schüler*innen in jeder Schulklasse.«

Bleibt Kindesmissbrauch also zumeist nach wie vor im Verborgenen und gehen auch die Fallzahlen seit Jahren nicht zurück - ganz im Gegenteil -, sind es in jüngster Vergangenheit neben den Gefahren, die im Internet lauern, vor allem schwerwiegende Fälle, ja ganze Komplexe organisierten Kindesmissbrauchs, die für Aufmerksamkeit sorgen. Und so auch die Politik unter Zugzwang gesetzt haben, in diesem Bereich aktiv zu werden.

Lügde, Bergisch Gladbach, Münster: Diese drei Orte in Nordrhein-Westfalen stehen mittlerweile synonym für sexuelle Gewalt gegen Kinder - und ganze Netzwerke von Tätern. Denen nun nach und nach der Prozess gemacht wird. Seit vergangener Woche etwa müssen sich der Hauptbeschuldigte und vier weitere Angeklagte im Kindesmissbrauchsverfahren von Münster vor dem dortigen Landgericht verantworten. Gemeinsam mit anderen Männern soll der mutmaßliche Haupttäter teilweise über Tage hinweg Kinder in einer Gartenlaube schwer sexuell missbraucht haben. Diese gehört der Mutter des Hauptbeschuldigten. Sie soll von den Taten gewusst haben und muss sich wegen Beihilfe verantworten. Laut Staatsanwaltschaft werden die Ermittlungen in dem Gesamtkomplex noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Während derzeit also die juristische Aufarbeitung großer Missbrauchsfälle läuft, ist die Bundesregierung dabei, die gesetzlichen Rahmenbedingungen anzupassen. In dem vom Bundesministerium für Justiz vorgelegten »Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder«, das Ende Oktober vom Kabinett beschlossen und in Erster Lesung im Bundestag beraten wurde, heißt es, die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder sei eine »der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit und zentrale Aufgabe des Staates.«

Und dieser setzt mit dem vorliegenden Gesetzvorhaben vor allem auf Abschreckung und erweiterte Befugnisse bei der Strafverfolgung. »Täter fürchten nichts mehr als entdeckt zu werden. Den Verfolgungsdruck müssen wir deshalb massiv erhöhen. Das schreckliche Unrecht dieser Taten muss auch im Strafmaß zum Ausdruck kommen«, so Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD).

Unter anderem sieht das neue Gesetz vor, dass der Grundtatbestand der sexualisierten Gewalt gegen Kinder statt wie bisher als Vergehen mit möglichen Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, künftig als Verbrechen mit einem Strafrahmen von einem bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe gilt. Auch »Verbreitung, Besitz und Besitzverschaffung von Kinderpornografie« sollen demnach zu einem Verbrechen hochgestuft werden. Im Bereich der Strafverfolgung soll künftig beispielsweise eine Telekommunikationsüberwachung auch bei »Ermittlungen wegen des Sichverschaffens oder Besitzes von Kinderpornografie möglich sein« und »auch in den Fällen des Grundtatbestandes der sexualisierten Gewalt gegen Kinder sowie der Verbreitung kinderpornografischer Inhalte soll künftig eine Onlinedurchsuchung und eine Verkehrsdatenerhebung von auf Vorrat gespeicherten Daten angeordnet werden können«, wie es in der Auflistung der Kernpunkte des Gesetzes von Ministeriumsseite heißt.

Das Gesetzesvorhaben stößt bei den entsprechenden Verbänden, die mit dem Thema Kindesmissbrauch befasst sind, dabei zwar prinzipiell auf Wohlwollen, doch weisen diese auch darauf hin, dass mit Verschärfungen allein noch nicht viel gewonnen ist. So fordert etwa der Deutsche Richterbund die Bundesländer auf, Jugendämter, Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte personell besser auszustatten und den Schutz von Kindern zur Top-Priorität ihrer Politik zu machen. Auch nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerks sollte »die Zahl der Ermittlerinnen und Ermittler bei Polizei und Staatsanwaltschaften im Bereich des Kinderschutzes massiv aufgestockt werden«.

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