Aufarbeitung aus linker Perspektive

Andreas Fritsche zum Umgang mit Opfern der Verhältnisse in der DDR

Eine neue Studie zu DDR-Unrechtsopfern veranlasst mich zu folgendem Geständnis: Ich schäme mich nicht dafür, dass ich einst als Schüler in einer Turnhalle antisemitische Sprüche hören musste und die Direktorin davon in Kenntnis setzen ließ - nachdem meine Bitte, diese Sprüche zu unterlassen, keinen Erfolg hatte. Es folgte eine strenge Aussprache mit den Tätern. Was aus ihnen nach der Wende geworden ist, weiß ich nicht. Heute bezeichnen sich aber solche Täter zuweilen als Opfer des SED-Regimes - und ich bin in deren Augen der gemeine Denunziant. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln.

Dem Ministerium für Staatssicherheit habe ich nie etwas zugetragen. Ich wünschte mir damals, mit jedem offen zu reden, ohne dass dieser fürchten müsste, es würde dort landen. Ich gebe aber zu, dass ich seinerzeit Geheimdienste noch nicht prinzipiell ablehnte, sondern glaubte, dieses Ministerium werde gebraucht. Ich wollte nur persönlich nichts damit zu tun haben. Auf diese Haltung kann ich nicht stolz sein.

Ich gestehe, dass ich volkseigene Betriebe und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften für keine verkehrte Idee halte. Natürlich sind entschädigungslose Enteignungen nach kapitalistischer Denkweise ein grausames Verbrechen und die Opfer zu bedauern. Mein Mitleid konzentriert sich hier auf die Ausgebeuteten.

Doch nehmen wir das beiseite. Es steht fest, dass viele Praktiken der DDR zur Disziplinierung unangepasster Bürger den hehren sozialistischen Idealen nicht entsprachen. Auch, dass solche Vorgehensweisen durch den Kalten Krieg bedingt waren, darf keine Entschuldigung sein. Lassen wir uns also nicht dazu verleiten, das Leid der Opfer kleinzureden, nur weil bei der offiziellen Darstellung heute die Absicht mitschwingt, den Sozialismus in Gänze und für alle Tage zu diskreditieren.

Wir müssen sogar überlegen, ob angesichts der Fülle der Untaten, die in den dunkelsten Zeiten des Stalinismus begangen worden sind, vielleicht etwas grundsätzlich falsch ist an unserer Philosophie. Ohne diese Offenheit in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte besteht keine Chance, eine sozialistische Gesellschaft zu entwickeln, die nicht wieder dazu führt, dass Freiheitsrechte missachtet und offene Diskussionen als Gefahr betrachtet und unterbunden werden.

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