Tödlicher Hass

Auch drei Jahrzehnte nach dem Mord an Amadeu Antonio Kiowa durch Neonazis in Eberswalde ist Rechtsextremismus in Staat und Gesellschaft ein großes Problem.

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 6. Dezember 1990 erlag der aus Angola stammende Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa seinen schweren Verletzungen. Elf Tage zuvor war der 28-Jährige in Eberswalde von Neonazis brutal zusammengeschlagen worden - direkt vor den Augen der Polizei, die nicht eingriff. Augusto Jone Munjunga war ein Freund von Amadeu Antonio Kiowa, der 1987 in die DDR gekommen war, um Flugzeugtechnik zu studieren. Stattdessen arbeiteten die beiden in einer Fleischfabrik in Eberswalde. 30 Jahre später erinnert sich Munjunga noch genau an diese Zeit: »Anfang der 1990er Jahre war es gefährlich für Schwarze, auf die Straße zu gehen.« Es habe regelrechte No-go-Areas gegeben, die Afrikaner hätten sich nur zu viert oder zu fünft getraut, einkaufen zu gehen. »Das war nicht nur Rassismus, das war Krieg«, sagt Munjunga rückblickend.

Manchmal wurden sie gewarnt, wenn Nazi-Skinheads Jagd auf Linke und Schwarze Menschen machten. Nicht so am Abend des 24. November: Befreundete Angolaner hatten ihren Abschied gefeiert, erzählt Munjunga. Sie hatten, wie viele Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren und mussten zurück in ihr Herkunftsland. Als Kiowa, Munjunga und andere sich auf den Weg nach Hause machen, passiert es: Mehr als 50 Männer lauern ihnen auf und schlagen sie unter »Deutschland den Deutschen«-Rufen brutal zusammen. »Da waren auch Polizisten, aber sie konnten uns nicht helfen. Jeder musste allein versuchen, sein Leben zu retten«, sagt Munjunga. Zwei Mosambikaner werden mit Messern schwer verletzt, können aber fliehen. »Amadeu hat es leider nicht geschafft.« Zehn Leute umringen ihn und schlagen mit einem Baseballschläger auf ihn ein. Als er am Boden liegt, springt einer von ihnen mit den Füßen auf seinen Kopf.

Amadeu Antonio Kiowa war eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Er hinterließ eine Frau und einen Sohn, der seinen Vater nie kennenlernte. Die Täter kommen glimpflich davon: Nur sechs von ihnen werden angeklagt, die 17 bis 20 Jahre alten Jugendlichen erhalten wegen Körperverletzung mit Todesfolge milde Strafen zwischen zwei Jahren Bewährung und viereinhalb Jahren Jugendarrest. Der Richter wertet den Vorfall als »jugendtypische Verfehlung«, der rassistische Hintergrund wird systematisch ausgeblendet. Die anderen Täter kommen ungestraft davon, auch für die untätig gebliebenen Polizisten gibt es keine Konsequenzen.

Hasskriminalität nimmt zu

Dass der rassistische Hintergrund oft ausgeblendet wird, ist auch heute noch so: 213 Todesopfer rechter Gewalt zählt die Amadeu Antonio Stiftung seit 1990, offiziell sind es mit 109 gerade einmal die Hälfte. 2015 stieg die Zahl der Hassverbrechen im Zuge des Sommers der Migration stark an, bundesweit verdoppelten sie sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu von 4983 auf 9426. Nachdem die Zahlen seit 2016 wieder gesunken waren, stiegen sie im vergangenen Jahr wieder an. Allein in Berlin wurden 2410 Fälle gezählt. Damit rechte Straftaten besser als solche erkannt und verfolgt werden können, hat der rot-rot-grüne Senat im September die Zentralstelle Hasskriminalität eingerichtet.

»Die offiziellen Zahlen beschreiben nur die Spitze des Eisbergs«, weiß Ines Karl, Leiterin der Zentralstelle. Denn viele Menschen erleben auch heute noch tagtäglich rassistische Gewalt. »Eine Frau wird von zwei Männern vor einem Eiscafé als ›scheiß Ausländer‹, ›dreckige Fotze‹ und mit ›Ich ficke dich, du Schlampe‹ beschimpft, später wird ihr an den Hals gefasst, sie wird mit der Faust geschlagen und zu Boden gebracht, wo der vom Täter mitgeführte Kampfhund auf den Befehl ›Fass!‹ auch zubeißt«, beschreibt die Oberstaatsanwältin einen der gemeldeten Fälle.

Karl sieht es als Aufgabe der Justiz, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und Betroffenen das große Dunkelfeld er Hasskriminalität zu erhellen. Dafür müssten die Taten, seien sie auch noch so geringfügig, mitsamt allen Merkmalen von Hasskriminalität sofort angezeigt werden. Es geht darum, das wahre Ausmaß rechter Gewalt sichtbar zu machen, damit sich die Täter nicht bestärkt fühlen und damit diese überhaupt ermittelt werden können. Die geringe Anzeigebereitschaft der Betroffenen führt die ehemalige Ansprechpartnerin für LSBTI-Personen (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans und Inter) bei der Berliner Staatsanwaltschaft auf ein »Vertrauensdefizit in der Gesellschaft gegenüber Polizei und Justiz« zurück. Mit der neu eingerichteten Zentralstelle will sie dieses Vertrauen wiedergewinnen. Dabei helfe nur absolute Offenheit: So gebe es in Berlin durchaus Anhaltspunkte für rechte Strukturen innerhalb der Polizei, diese dürften aber nicht negiert, sondern müssten zur Kenntnis genommen und bekämpft werden, fordert Karl.

Die Vorsitzende und Mitbegründerin der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, sieht angesichts Entwicklungen wie dieser große Fortschritte seit dem Tod von Amadeu Antonio Kiowa, sowohl in der Justiz als auch in der Zivilgesellschaft. »Die Polizei hat damals komplett versagt und auch die Staatsanwaltschaft hat sich nicht mit Ruhm bekleckert.« Hinzu gekommen sei eine unengagierte Zivilgesellschaft, in der es an rassismuskritischen Einstellungen fehlte. »Rassismus gehörte zur Normalität, im Osten wie im Westen«, sagt Kahane. Heute sei die Situation sehr viel besser, es gebe viele engagierte Menschen in der Zivilgesellschaft, und dass so offen über Rassismus geredet werde, sei an sich schon ein »gewaltiger Fortschritt«.

Was sich seit dem Tod von Amadeu Antonio nicht geändert habe, sei das hohe Potenzial autoritaristischer Einstellungen in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. »Rechtsextremismus ist nicht nur ein Randproblem, es ist ein Problem der Mitte. Es ist auch nicht aus den Rändern in die Mitte geflossen, sondern andersherum«, sagt Kahane. Das Problem des Mitte-Extremismus habe es aber auch schon früher gegeben, es sei heute nur sichtbarer. Etwa durch die hohen Zustimmungswerte für die AfD, die es geschafft habe, die rechtsradikalen Kräfte aus dem Osten zu binden und mit nationalkonservativen Kräften aus dem Westen zusammenzubringen. Oder bei den Corona-Protesten, bei denen stramme Neonazis und vermeintlich unpolitische Bürgerinnen und Bürger Seite an Seite auf die Straße gehen. Oberstaatsanwältin Ines Karl, die vor zwei Wochen die Ermittlungen gegen den rechten Verschwörungsideologen Attila Hildmann an sich gezogen hat, registriert in diesem Zusammenhang eine regelrechte Anzeigenflut. Ob dies an der Masse rechter Straftaten liege oder eine Strategie von Rechten sei, die Behörde lahmzulegen, ließe sich jedoch noch nicht sagen.

Fehlende Streitkompetenz

Was also tun gegen den grassierenden Rassismus in Staat und Gesellschaft? Stiftungsleiterin Anetta Kahane setzt darauf, jungen Menschen die Kompetenzen beizubringen, kritisch zu denken und Differenzen aushandeln zu können. Die Fähigkeit zu Streit und Diskussion sei angesichts von Hate Speech auch im digitalen Bereich enorm wichtig. »Wir brauchen eine digitale Zivilgesellschaft. Es ist wichtig, dass sich die Engagierten nicht aus dem Netz vertreiben lassen.« Auch Augusto Jone Munjunga setzt auf Bildung. Er hat nach dem Tod von Amadeu Antonio den Kulturverein »Palanca« in Eberswalde mitbegründet und versucht seither, mit Projekten in Kitas und Schulen das interkulturelle Zusammenleben zu stärken. Oberstaatsanwältin Ines Karl glaubt, dass mehr Diversität die Sicherheits- und Justizbehörden nachhaltig reformieren kann. »Das wird langfristig zu großen Veränderungen führen.«

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