Wem kann man’s in die Schuhe schieben?

Sieben Tage, sieben Nächte

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Gesundheitsminister Jens Spahn hat bereits vor einiger Zeit kundgetan, dass man sich am Ende der Coronakrise »viel verzeihen müsse«. So weit sind wir aber noch lange nicht! Im Moment hangeln wir uns im Zweiwochenrhythmus von Verlängerung zu Verlängerung des zunächst »November-Lockdown« genannten halbgaren Zustands - wir machen das jetzt ohne große Aufregung über Nacht, es grüßen Ihr Kanzleramt und 16 Länderchefs. Der November endet derzeit am 10. Januar; es bedarf allerdings nur wenig prophetischer Gabe, um weitere Verlängerungen bis in den Frühling oder gar den Sommer hinein vorherzusagen. Und bei der Impfstoffversorgung ist derzeit mit dem Nikolaus oder dem Weihnachtsmann eher nicht zu rechnen, man setzt eher auf den Osterhasen.

Die Kommunikation mit den Bürgern ist mittlerweile auf diesem kindlichen Niveau angekommen, man passt sich halt an die Gepflogenheiten an. Gerne auch an Traditionen, Sitten und Gebräuche. Hierzulande kommt dem Nikolausfest 2020 endlich seine wahre, uralte Bestimmung zu. Wer annahm, es ginge auch dieses Wochenende um Süßwaren und Freude, der glaubt auch, dass Schulen derzeit offen sind, weil das Virus einen Bogen um sie macht. Nein, es geht darum, anderen etwas in die Schuhe zu schieben. Und zwar die Schuld. An diesem Elend. Dem ganzen. Probieren Sie das mal für sich allein aus - und machen Sie Ihren Liebsten so eine Freude, die können das nämlich manchmal gar nicht mehr hören. Also, losgeschoben, wer hat Schuld?

Die da oben, wegen ihrer Gier. Die da unten, weil sie sich nicht benehmen können. Die Politiker. Alle durch die Bank. Die Banken sowieso - aber bleiben wir erst einmal bei den Politikern. Merkel. Trump. Johnson. Bolsonaro. Putin? Ach, wenn der wüsste, der würde das ändern! Die ganzen unfähigen Minister. Alle. Egal, wo man hinguckt. Nur nicht genauer, das sieht nur noch finsterer aus.

Die Alten sind schuld mit ihrer Unvorsicht. Die Jungen mit ihren Partys. Die Chinesen. Die Sachsen. Die Skifahrer. Die ganzen Demonstranten. Überhaupt alle, die jetzt noch aus dem Haus gehen. Alle, die jetzt noch nicht auf die Straße gegen das alles gehen.

Die Globalisierung ist schuld. Der Kapitalismus. Die Fleischindustrie. Der Klimawandel. Der Platzmangel in Städten. Der Mensch als solcher. Der Neoliberalismus. Das ganze »Ich, ich, ich!«. Die Flugreisen.

Die Masken sind schuld. Die getragen werden müssen. Die nicht getragenen. Die Nazis sind schuld. Die Clans sind schuld. Die offenen Grenzen. Die geschlossenen Grenzen. Das ganze Durcheinander. Und überhaupt.

Diese Litanei können Sie beliebig an Ihre Bedürfnisse anpassen. Sie dürfen sich da aber nicht selbst einbeziehen - denn die Tradition des In-die-Schuhe-Schiebens ist eine ganz alte und deshalb bewahrenswerte. Und funktioniert nur mit anderen. Stephan Fischer

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal