Der menschenfeindlichste Ideologe?

Wolfgang Harich und der Streit um Friedrich Nietzsche in der DDR

  • Alexander Amberger
  • Lesedauer: 6 Min.

Wäre Harich damals eingeliefert und ruhiggestellt worden, Nietzsche hätte in der späten DDR wohl tatsächlich […] noch eine kleine publizistische Blüte und […] eine museale Aufwertung erfahren; kritisch sicherlich und noch immer mit warnendem Zeigefinger, aber doch mit heimlichen und unheimlichen Identitätspotenzialen für jedermann.« Dieses Zitat aus Matthias Steinbachs neuem Buch enthält zwei weitverbreitete Annahmen: Erstens, dass der späte Wolfgang Harich zumindest in der Nietzsche-Debatte »verrückt« gewesen sei. Und zweitens, dass der Philosoph und Publizist sich hier als kulturstalinistischer Großinquisitor aufgespielt habe, der die Diskussion dominieren wollte. Doch wie schrieb jüngst Thomas Wagner in der »FAZ« über die Nietzsche-Debatte, die letzte große Kontroverse innerhalb der DDR-Intelligenz vor dem Mauerfall, so treffend: »Die Wirklichkeit war - wie so oft - verwickelter.«

In der Zeitschrift »Sinn und Form« entbrannte Mitte der 80er Jahre die Diskussion um einen Artikel Heinz Pepperles, der in der DDR eine vorsichtige Öffnung hin zu Nietzsche anregte und eine bitterböse Replik Harichs erntete. Dieser geriet daraufhin öffentlich in die Kritik, vorrangig von Literaten, die sich mehr Freiheiten versprachen.

Die Debatte hallt bis heute nach. Zwar streitet man innerhalb der Linken kaum noch über Nietzsche, jedoch bestehen die Fronten in der Aufarbeitung und Nachbetrachtung der Diskussion fort. Wieder steht die Zeitschrift für Literatur und Kultur, »Sinn und Form«, im Zentrum: In der Ausgabe 1/2020 druckte sie Briefe Harichs an seinen damaligen Gegenspieler Stefan Hermlin nach. Dazu kam eine Erläuterung des Harich-Herausgebers Andreas Heyer, die einige Leser zu apologetisch fanden. Friedrich Dieckmann etwa oder Arno Widmann, der in der »Berliner Zeitung« das einst von der Akademie der Künste der DDR herausgegebene Journal dafür kritisierte, Harichs »Rufe nach Zensur ohne Einspruch nachzudrucken« - dabei nicht merkend, dass dies ja selbst ein Ruf nach Zensur ist.

Die Briefe an den Schriftsteller Hermlin sind, neben vielen weiteren zum Thema, im zwöften Band der Harich-Nachlassreihe 2019 publiziert worden. Aus der Gesamtschau ergibt sich ein anderes Bild, das einen teilweise missverstandenen und kulturpolitisch instrumentalisierten Harich zeigt. Nach zwei Jahren im Westen kam er 1981 in die DDR zurück. Hier wurde er unter anderem von Klaus Höpcke und Gregor Schirmer dazu angeregt, für den Akademie-Verlag ein Buch über Nietzsche zu verfassen. Harich machte sich ans Werk, las sich in die Quellen und in das Werk nochmals ein, stellte aber nach einem Jahr »angeekelt« fest, dass er das nicht weitermachen wolle. Denn Nietzsche sei »der schlechthin menschenfeindlichste, reaktionärste, überdies am meisten den Krieg verherrlichende Ideologe, den die Geschichte kennt«, wie er in mehreren Briefen immer und immer wieder schreibt. Alles, was man aus marxistischer Sicht über den Autor von »Also sprach Zarathustra« zu sagen hätte, fände sich bereits bei Franz Mehring, Hans Günther und vor allem in der Schrift »Die Zerstörung der Vernunft« von Georg Lukács.

Harich hielt es für unnötig und gefährlich, den Konsens gegen Nietzsche, den die DDR-Intelligenz Ende der 40er Jahre getroffen hatte, aufzuweichen. Deshalb empfahl er, erst gar keine öffentliche Debatte zu beginnen. Er sah im Verfasser des »Zarathustra« den Vordenker des Faschismus, vor allem des italienischen. Statt ihn in der DDR wieder hoffähig zu machen, sollte man lieber Georg Lukács, Jean Paul oder Rudolf Haym in würdigen Ausgaben drucken. Dieses Argument von ihm wird von allen Kritikern ignoriert. Auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR 1987 wurde Harich öffentlich von Stefan Hermlin und Hermann Kant für seinen »Sinn und Form«-Beitrag angegriffen, ohne sich verteidigen zu können. Die Vorwürfe waren zum Teil falsch, halten sich aber bis heute (zum Beispiel, dass Harich auch gegen eine Erbe-Aneignung in der DDR bezüglich Luther, Friedrich II. oder Bismarck war). In jene Zeit fällt übrigens auch das Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« in der DDR, das Harich in Briefen scharf kritisierte.

Steinbach wirft ihm vor, einseitig und selektiv lesend gegen Nietzsche polemisiert, »Denunziation durch Assoziation« mit Hitler betrieben zu haben. Seine Kritik an Harich basiert allerdings ebenfalls auf Unterstellungen und Einseitigkeiten wie etwa, dass Harich eine heimliche »Bruderschaft« zu Nietzsche empfunden und ihn insgeheim verehrt habe, was durch die frühen Briefe widerlegt wird. Steinbach hat den zehn Monate vor seinem Buch erschienenen Nachlassband zwar in zwei Fußnoten kurz erwähnt, scheint aber nicht weiter darin gelesen zu haben. So behauptet er, dass Heyer bei einem anonym erschienenen Artikel Harichs aus dem »Kurier« von 1946 dessen Urheberschaft abstreite. Ein Blick auf Seite 35 des Buches offenbart jedoch, dass ebendieser Artikel bereits 1996 wiederentdeckt und Harich zugeordnet worden ist.

Heyer nahm diesen Artikel als Beleg, dass der junge Harich ein milderes Urteil über Nietzsche hatte. Kurz darauf habe er jedoch seine Meinung geändert und seinen späteren Standpunkt eingenommen, den die meisten DDR-Intellektuellen hegten. Deren Negation Nietzsches bezeichnet Steinbach zurecht als »sozialistische Katharsis, antifaschistische Reinigung des neuen Denkens«. Während einige Beteiligte diesen Konsens jedoch über drei Jahrzehnte später aufgaben, spielte sich Harich mit Bezug darauf als oberlehrerhafter Verteidiger auf: »Wo Linke sich auf Nietzsche ›besinnen‹, will ich tun, was ich kann, ihnen die Dummheit und Gemeingefährlichkeit dieser Verirrung zu Bewusstsein zu bringen.«

Steinbach betont den Dichter und Freigeist Nietzsche, den wortgewaltigen Literaten, nicht den elitären, präfaschistischen und antisozialistischen Denker. Bei Nietzsche sei für Vertreter aller politischen Lager etwas zu finden, so für Linke etwa dessen Kritik von 1871 an »Hornvieh-Nationalismus« und »Vaterlandstölpelei«. Harich hielt das jedoch für Fassade, hinter der faschistischer Geist lauere. Nietzsches Polemik gegen den Wilhelminismus, gegen Bismarck und die Hohenzollern komme von rechts und rufe nach noch härterer, autoritärer Politik. Hinter Nietzsches Individualität verberge sich bloß Antisozialismus und Egoismus.

Während Harich gegen Nietzsche stritt, änderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse: Glasnost und Perestroika, Entspannungspolitik, ideologische Abrüstung und ein Aufweichen der Zensur in der DDR lagen in der Luft - wenngleich niemand an das baldige Ende des Staates dachte. Die SED-Kulturfunktionäre, mit denen Harich korrespondierte, waren sich selbst uneins über das Problem Nietzsche. Während Steinbach, Renate Reschke und andere Harich Erfolg in der Verhinderung Nietzsches attestieren, fühlte er sich selbst als Verlierer. Obwohl bis Ende 1989 kein Nietzsche-Band mehr in der DDR erschien. Kurt Hager und Manfred Buhr hielten sich unbeschadet, wenngleich auch sie gegen eine Nietzsche-Debatte waren. Steinbachs Vermutung, dass Hager zum Disziplinieren allzu liberaler Literaten Harich als »Waffe« in der Hinterhand behalten wollte, scheint nicht ausgeschlossen. Harich war eine Schachfigur auf dem Feld der späten DDR-Kulturpolitik.

Es empfiehlt sich, auf beide Bücher zurückzugreifen, auch weil sie sich im Hinblick auf die Quellen ergänzen: Steinbach hat sich Stasi-Unterlagen und Dokumente aus dem Bundesarchiv angesehen, Heyer greift auf Harichs Nachlass zurück. Für den Einstieg sei noch das Heft »Ins Nichts mit ihm!« empfohlen. Darin haben beide Autoren ihre Standpunkte festgehalten. Zudem enthält es ein transkribiertes Streitgespräch von 2016.

Matthias Steinbach: »Also sprach Sarah Tustra«. Nietzsches sozialistische Irrfahrten. Mitteldeutscher Verlag, 288 S., geb., 20 €; Wolfgang Harich: Friedrich Nietzsche. Der Wegbereiter des Faschismus. Schriften aus dem Nachlass, Bd. 12, Hg. v. Andreas Heyer. Tectum-Wissenschaftsverlag, 746 S., geb., 79,95 €; »Ins Nichts mit ihm!« Ins Nichts mit ihm? Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der DDR. Reihe Philosophische Gespräche, Heft 43. Helle Panke e. V., 63 S., br., 3 €.

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