Keine Zukunft ohne Strom, Heizöl und Arbeit

Die desolate wirtschaftliche Lage treibt viele syrische Christen ins Ausland - wenn sie zuvor nicht schon vom IS vertrieben worden sind

  • Karin Leukefeld, Homs
  • Lesedauer: 7 Min.

»Wissen Sie in Europa eigentlich wie es ist, ohne Strom zu leben? Ohne Heizöl im Winter, ohne Gas zum Kochen? Wenn das Brot teurer wird, Obst und Gemüse, die Menschen aber immer weniger Geld haben?« Pater Zehri Ghazal hat sich in Rage geredet. Er ist Priester an der Kirche Umm Al-Zinar in der Altstadt von Homs. Was er sagt und wie er spricht steht völlig im Gegensatz zu seinem Äußeren und seiner sonst eher ruhigen, humorvollen Art. »Vor dem Krieg und der Wirtschaftskrise haben manche Leute hier umgerechnet 1500 US-Dollar verdient, heute haben sie 35 US-Dollar oder umgerechnet rund 90 000 syrische Pfund«, sagt er.

Die humanitäre Situation in Syrien ist katastrophal. Das weiß auch Pater Ghazal nur zu gut. »Wenn jemand seine fünfköpfige Familie ernähren will, was kann er zum Essen kaufen? Das einfachste Essen, Falafel mit Gemüse und Brot kostet 500 Syrische Pfund. Wenn die Familie das zum Frühstück, zum Mittagessen und abends isst, sind das pro Mahlzeit 2500 Pfund, pro Tag 7500 Pfund« rechnet er vor. Im Monat kämen so 225 000 Pfund zusammen - allein für Falafel, »ohne was zu trinken, ohne Seife oder Waschpulver, ohne Öl oder sonst irgendetwas. Und sicherlich haben sie Kinder, die in die Schule gehen oder studieren, die Bücher, Internetzugang und so weiter brauchen«, fährt er fort. »Was ist, wenn jemand aus der Familie krank wird und teure Medikamente braucht, die es dann vielleicht noch nicht einmal gibt!«

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Pater Zehri Ghazal spiegelt die Verzweiflung der Menschen in Syrien wieder. Das Gespräch zwischen ihm und der Autorin dreht sich um die miserable wirtschaftliche Lage in Syrien und die Frage, wie die Menschen überleben könnten. Was kann die Kirche tun, wie könnte Europa helfen? Und schließlich, was ist mit Weihnachten in diesem Jahr? Wie werden die syrischen Christen feiern?

Die Gelder der syrischen Kirchen lägen seit Beginn der EU-Sanktionen im Jahr 2011 auf libanesischen Banken, von wo man es dann nach Syrien geholt habe. Seit der Libanon in einer Wirtschaftskrise stecke und die libanesischen Banken sämtliche Zahlungen auch von Konten in Auslandswährung blockiert habe, könne das syrisch-orthodoxe Patriarchat, das auch für die Umm Al-Zinar-Kirche in Homs zuständig sei, die Gehälter nur noch in syrischen Pfund bezahlen. Dieses aber falle gegenüber dem Dollar seit Beginn der US-Sanktionen immer tiefer in den Keller, das Geld zerfließe den Menschen zwischen den Fingern.

Die humanitäre Hilfe, die an Bedürftige in Syrien über internationale und UN-Organisationen verteilt würden, solle die Menschen davon abhalten, nach Europa zu fliehen meint Ghazal. Man sei nur daran interessiert, dass nicht noch mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kämen, ist der Kirchenmann sich sicher: »Aber angesichts der aussichtslosen Lage in unserem Land und der Wirtschaftsblockade, mit der Europa und die USA uns die Luft abschnüren, sehen sich viele Familien nicht mehr in der Lage, hier weiter zu leben und tun alles, um nach Belgien, Deutschland oder Schweden zu kommen. Sie nehmen all ihr Geld, verkaufen, was sie verkaufen können, und schicken mit dem Geld ihre Kinder in die Fremde, um dort zu studieren und sich eine bessere Zukunft aufzubauen. Werden diese jungen Leute später zurückkehren?«, fragt Pater Ghazal und gibt gleich selbst die Antwort: »Warum sollten sie zurückkehren in ein Land ohne Strom, ohne Heizöl, ohne Benzin und dazu in ein Land, wo sie keine Arbeit finden, weil auch ihre Eltern keine Arbeit mehr haben.«

Stille erfüllt den Raum, bis jemand vorsichtig einwirft, dass es um die Heimat gehe, um die eigenen Wurzeln, um den Ursprung der Christen, die lange vor den Muslimen Bilad al-Sham, das Gelobte Land, geprägt hätten. Die Christen verschwänden aus dem Irak, aus Palästina, sie könnten nicht auch Syrien verlassen.

»Wir Christen waren einmal fünf Prozent der syrischen Bevölkerung, die vor dem Krieg 23 Millionen Menschen zählte«, sagt Pater Zehri. »Aber was sehen wir, wenn wir nach Aleppo sehen, in die Jazeera, wo es fast keine Christen mehr gibt. Idlib ebenso und hier, in der Altstadt von Homs haben wir vor dem Krieg 75 000 Christen gezählt, heute sind wir vielleicht noch 5000!« Wenn es so weitergehe, wenn die Eltern ihre Kinder ins Ausland schickten und diese dann nicht zurückkehrten, werde es keine 30 Jahre dauern, bis es in Syrien keine Christen mehr gäbe.

Die Lage der Christen in Syrien ist nicht gut. Wie alle Syrer leiden sie unter dem Mangel notwendiger Lebensgüter und immenser Verteuerung. Zusätzlich müssen sie zusehen, wie ihre Präsenz in Syrien fast wie das Eis in der Sonne zerschmilzt. Die Christen hätten keine Waffen, um ihr Dasein in Syrien zu verteidigen. Christen hätten nur das Wort, die Schrift und einen Stift, sagt auch Pater Taher Jussif, der die Gemeinde des Heiligen Georg in Maalula leitet. Angesichts des Hasses, den die Christen, Klöster, Kirchen und fast alle Orte erfahren hätten, die der »Islamische Staat« überfallen habe, sei es unwahrscheinlich, dass die Christen in Syrien eine Zukunft hätten. Hinzu käme das Schweigen der Welt, das diese Verwüstungen begleitete.

Maalula liegt zwischen hohen Felsen versteckt auf 1500 Meter Höhe zwischen Damaskus und Homs. Zwischen 2013 und 2015 war es wiederholt von bewaffneten Islamisten überfallen, besetzt und geplündert worden, die Kirchen wurden angezündet. Auf Bildern und Ikonen wurden die Gesichter zerschnitten, zerschlagen oder anders unkenntlich gemacht. Das dogmatische islamische Bilderverbot war der Grund für die Zerstörung. Die von Christen in Syrien verehrten Personen und Heiligen sind für Dschihadisten Dämonen des Bösen.

Jussif, den die Leute von Maalula einfach Abuna Taher nennen, Unser Vater Taher, ist ein Mann der Tat und wartet nicht lange, um etwas zu beginnen. Mit Freiwilligen und Restaurationsmalern aus Maalula werden letzte Renovierungsarbeiten vor Weihnachten abgeschlossen, die Kirche gleicht einem Atelier. Die farbgewaltigen Wandbilder wurden aufgefrischt, alte Ikonen restauriert und aufgehängt. Die von den Dschihadisten bei der Besatzung von Maalula zerstörten Ikonen will der Priester in einem Museum aufbewahren. Niemand solle vergessen, was geschehen ist.

Die Arbeit in der Kirche unterbricht der Priester nur, um ein Mittagessen mit Gästen einzunehmen oder mit den Kindern von Maalula Lieder und Choräle für den Weihnachtsgottesdienst einzustudieren, die er auf der Querflöte begleitet. Weihnachten erfülle ihn trotz aller Schwierigkeiten mit Hoffnung, sagt er. »Weihnachten bedeutet Leben und Licht, dann sind wir Jesus Christus wirklich nah.« Das Weihnachtslicht, das Leben könne die Denkweise der Menschen verändern, ist er überzeugt. Für Abuna Taher sind die Christen in Europa sehr weit von ihrer, der Christenrealität in Syrien entfernt, sagt er. Die einzige Botschaft, die er ihnen senden möchte, sei sehr einfach: »Helfen Sie uns nicht. Punkt.«

Die »Christen der Wüste« gelten als besonders verwurzelt, doch der Krieg hat auch sie in alle Winde zerstreut. In Tadmur, der Kleinstadt neben Palmyra, lebten nur wenige Hundert Christen. 2015, mit dem Vormarsch des IS flohen sie nach Homs, niemand ist bis heute zurückgekehrt. Die kleine Kirche ist zerstört. Im trockenen, steinigen Boden von Qaryatain haben die »Christen der Wüste« über Jahrzehnte Weinstöcke und Obstbäume gepflanzt. Schaf- und Ziegenherden zogen über die Ebenen, die in den Wintermonaten durch den Regen zu grünen Weideplätzen werden. 1500 Christen lebten in dem Ort Qaryatain, der etwa 100 Kilometer östlich von Homs liegt. 2015 nahm der IS den Ort ein, mit Unterstützung dort lebender Muslime. Sie zerstörten das Kloster Deir Mar Elian, das im Westen des Ortes liegt. Sie entführten 260 christliche Männer, Frauen und Kinder. Einige junge Frauen verschleppten sie bis nach Rakka. Die Häuser der Christen in Qaryatain waren zuvor von muslimischen Nachbarn mit einem »N« markiert worden, der Anfangsbuchstabe von Naseri, das bedeutet Christen.

»Wir waren eins mit den Muslimen«, erzählt eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie und ihre zwei Schwestern wurden in Qaryatain geboren, alle drei hätten ihr Leben lang als Lehrerinnen in den Grundschulen des Ortes gearbeitet. Sie gehörten 2015 zu den 260 Christen, die verschleppt wurden, an der Mauer, die ihr Haus umgibt, ist noch das »N« zu sehen, mit dem das Haus markiert worden war. Durch Verhandlungen kamen die Geiseln ein halbes Jahr später frei. 2019 kehrten die Schwestern nach Qaryatain zurück. Nur sechs von den einst 1500 Christen kehrten nach Qaryatain zurück. Die meisten hätten Angst, erzählen die Schwestern. Die Leute verkauften ihre Häuser, viele verließen Syrien, um in einem anderen Land eine bessere Zukunft zu finden. Für sie käme das nicht in Frage, lachen die Frauen, sie seien in Qaryatain zu Hause.

Weihnachten werden sie vor dem Fernseher verbringen. Sie sähen die bunten Dekorationen in Damaskus, könnten den Gottesdienst hören und miteinander feiern, dass sie noch am Leben seien. Und im nächsten Jahr, hoffentlich und so Gott es wolle, könnten sie auch in Qaryatain wieder gemeinsam Weihnachten feiern.

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