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Die heilige Jungfrau

Jungfräulichkeit ist gesellschaftlich ein Fetisch, medizinisch ein Mythos

»Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.« So soll es der Engel Gabriel zu Maria gesagt haben, als er sie in Nazareth überraschte. Dass diese verwundert fragte, wie das denn gehen solle, denn sie wisse »von keinem Mann«, ist verständlich. Eine Schwangerschaft ohne vorherigen Geschlechtsverkehr? Undenkbar, auch für Maria. Über 2000 Jahre später bekennen Christ*innen ihren Glauben weiterhin mit den Worten: Ich glaube … an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.

Die Jungfräulichkeit Marias sei keinesfalls wörtlich zu verstehen, betont Martin Germer, Pfarrer der Berliner Gedächtniskirche, im Gespräch mit »nd«. »In der Antike hat man durchaus auch in anderen Konstellationen von dem Sohn einer Gottheit gesprochen, wenn es sich um eine Person mit besonderer Bedeutung handelte.« Solche Erzählungen seien also in erster Linie symbolisch zu verstehen, Marias Jungfräulichkeit im Glaubensbekenntnis sei somit vielmehr eine Aussage über die Bedeutung von Jesus und seine einzigartige Beziehung zu Gott und nicht der Glaube an die tatsächliche Geburt durch eine Jungfrau.

Vor allem aber würden die Texte im Neuen Testament missverstanden, wenn man sie als historische Texte liest, meint Germer. »Die Menschen in der Antike sind mit solchen Aussagen anders umgegangen als wir heute, wo wir sehr auf naturwissenschaftliches Denken trainiert sind.« Dass sich Dinge auf mehreren Bedeutungsebenen bewegen können, gebe es in der Poesie, »aber in historischen Texten geht das heute eben nicht«, so Germer.

Und dennoch: Für viele Gläubige hat die Jungfräulichkeit einer Frau noch immer eine große Bedeutung. Im Netz sind Geschichten von jungen Frauen zu lesen, die von christlichen und muslimischen Familien und Glaubensgemeinschaften vor allem eins eingetrichtert bekommen: bloß keinen Sex vor der Ehe zu haben.

So erging es Clara in einer evangelischen Freikirche in Nordrhein-Westfalen, wie das Onlinemagazin »jetzt.de« berichtet, aber auch der Muslimin Leyla, deren Geschichte die »Süddeutsche Zeitung« veröffentlichte. »Bei der Mehrheit der Eltern ist das Jungfernhäutchen ihrer Tochter wichtiger als ihr Beruf - selbst in vermeintlich fortschrittlichen Akademikerfamilien«, erzählt der Familienberater und Psychologe Kazım Erdoğan im selben Artikel. In seiner Berliner Beratungsstelle empfängt er vor allem türkische Familien.

In evangelischen Kreisen würde heute niemand mehr die Erwartung formulieren, dass eine Frau vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben darf, betont Pfarrer Germer. »Das sind Moralvorstellungen, die lange her sind.« Dennoch kann auch er nicht ausschließen, dass das in bestimmten Frömmigkeitstraditionen - evangelischen wie katholischen - doch noch vorkommt.

Mythos Jungfernhäutchen

Dass es sich bei der Jungfräulichkeit jedoch eigentlich um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, zeigt der Blick auf die Anatomie des weiblichen Körpers. Denn ein Jungfernhäutchen, an dem erkennbar wäre, ob eine Frau bereits penetrativen Sex hatte oder nicht, gibt es gar nicht. Um diese Vorstellung nicht zu verfestigen, sprechen viele auch von »Vaginalkorona«, »Scheidenkranz« oder häufiger noch »Hymen«.

Dabei handelt es sich um eine Schleimhautfalte, die sich wie ein Kranz an die Scheidenwand legt. Größe und Form der Hymen sind verschieden und veränderbar. Die deutlichste Veränderung vollzieht sich während der Pubertät, wenn Hormone sich am ganzen Körper abarbeiten - und eben nicht nach dem ersten Geschlechtsverkehr. Im Gegenteil: Hymen sind sehr elastisch. Ob es beim ersten Penetrationssex tatsächlich reißt - und blutet -, ist abhängig von der Form des Hymens und dessen Elastizität. Die kulturellen und sozialen Erwartungen an Frauen können viele schon rein anatomisch gar nicht leisten. Tatsächlich blute nur etwa die Hälfte aller Frauen beim ersten Vaginalsex. Dabei kann das Blut allerdings genauso von der Scheidenwand stammen.

»Bei manchen zieht sich ein schmaler Teil des Hymens quer über die Scheidenöffnung, so dass es eher wie ein ‚Ø‘ aussieht und nicht wie ein ‚O‘. Bei anderen ähnelt das Hymen einem Sieb mit vielen kleinen Löchern anstelle eines großen in der Mitte. Wieder andere Hymen sehen aus, als hätten sie kleine Fransen an der Scheidenwand, und nur die wenigsten Mädchen haben ein Hymen, das den gesamten Scheideneingang bedeckt«, erklären die Ärztinnen Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl in ihrem Buch »Viva la Vagina«. Also ein Hymen, das der Vorstellung eines zu durchstoßenden Jungfernhäutchens entspricht. Das ist nicht nur selten, sondern auch äußerst problematisch. Denn spätestens bei der ersten Menstruation muss das Blut aus der Scheide rausfließen können. Die »Hymenalatresie«, wie diese Variante bezeichnet wird, muss dann operativ geöffnet werden.

Es gibt also keine Hymenvariante für Frauen mit Sexerfahrungen und eine andere für Jungfrauen, resümieren Brochmann und Støkken Dahl. »Wie andere Körperteile auch weist das Hymen im Aussehen individuelle Variationen auf. Sorry, Keuschheitstests funktionieren nicht.« Um so erschreckender, dass in vielen Teilen der Welt noch immer ein »unverletztes« Hymen als Beweis für Jungfräulichkeit gilt.

Werkzeug der Unterdrückung

Eine »lange religiös-patriarchale Tradition« zur »Kontrolle weiblicher Sexualität«, kritisiert Verena Brown. Die Kinderärztin betreut in den USA Opfer sexuellen Missbrauchs und erregte 2019 mit einem Facebook-Post über das Hymen für Aufsehen. Das Jungfernhäutchen sei umgeben von »antiquierten Traditionen und Fehlinformationen«, die Frauen auf der ganzen Welt »die Ehre oder sogar das Leben kosten«, schreiben auch Brochmann und Støkken Dahl.

In der Tat werden viele Frauen Tests unterzogen, um ihre Jungfräulichkeit zu prüfen oder mit »Hymenalrekonstruktionen« sogar »wiederherzustellen«. Dabei werden das Hymen oder vaginales Gewebe so verengt, dass es beim Sex sicher verletzt werden würde. Manche Frauen greifen auch auf künstliche Hymen zurück: Membrane mit falschem Blut, die sich durch Körpertemperatur und -flüssigkeit auflösen und etwa 50 Euro kosten. Andere lassen sich ihre Jungfräulichkeit durch Mediziner*innen attestieren. Die Untersuchungen sind jedoch nicht immer freiwillig und werden vielfach von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Erzwungene Jungfräulichkeitstests »verletzen die Rechte von Frauen und Mädchen auf körperliche Unversehrtheit, Würde und Privatsphäre sowie das Recht, keiner Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden«, erklärte Amnesty International 2016.

Wirklich attestieren lässt sich am Ende eigentlich nur eins: dass Jungfräulichkeit kein anatomischer Zustand ist, sondern eine mentale, eventuell auch emotionale Entscheidung. Und zwar für Frauen und für Männer.

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