Bildungsarmut ist die Mutter aller Probleme
Bernd Becking, ehemaliger Leiter der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, darüber, was die Europäische Union von Berlin und Brandenburg lernen kann
Herr Becking, Sie waren Regionaldirektionschef, als die Arbeitsmarktdaten gut waren. Jetzt, wo es wegen der Coronakrise schwierig werden dürfte, lassen Sie die Hauptstadtregion im Stich. Haben Sie kein schlechtes Gewissen?
Ich würde es deswegen nicht so sehen, weil wir mit den Agenturen und Jobcentern in 2020 im Kontext der Krise schon viel geleistet haben - sei es die akkurate Auszahlung des Kurzarbeitergeldes in einem nie gekannten Ausmaß oder Leistungen in der Grundsicherung für Tausende von Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf diese Unterstützung angewiesen waren. Im Übrigen hatten wir den Höhepunkt der Krise - der bisherigen Krise muss man ja sagen - schon: Das war der Juli mit über 215 000 Arbeitslosen und einer Quote von 10,8 Prozent. In der Kurzarbeit lag der Höhepunkt im April mit etwa 240 000 Personen. Seitdem tritt in beiden Faktoren eine Erholung ein. Daraus leite ich ab, dass der Arbeitsmarkt in Berlin robust ist. Wir hatten im Übrigen auch im Dezember nicht den sonst üblichen Anstieg von Arbeitslosigkeit, was für mich überraschend kam.
Bernd Becking war acht Jahre für die Regionaldirektion der Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg tätig, von 2016 bis 2020 leitete er die Behörde. Der 61-Jährige berät seit Dezember die Fachkommission der EU. Mit Andreas Fritsche und Claudia Krieg hat er unter anderem darüber gesprochen, wie seine Berliner Erfahrungen dort einfließen können.
In Brüssel dürfen Sie nur beraten und nicht entscheiden. Bedauern Sie das?
Die EU hat nachgefragt, ob Nationen Fachexperten - auch zur Krisenbewältigung - zur Verfügung stellen. Ich fand das eine sehr spannende Herausforderung und bringe viele praktische Erfahrungen aus Berlin mit. Ich bin als überzeugter Europäer groß geworden, spreche auch ganz gut Französisch, weil ich gebürtiger Saarländer bin. Mein Team ist multinational, die Umgangssprache Englisch.
Auf welche Erfahrung aus den Jahren in der Hauptstadtregion werden Sie auf EU-Ebene schöpfen?
Erstes Thema wird die Flüchtlingsintegration sein. Man muss offensiv zeigen, dass die Vermittlung Geflüchteter in Ausbildung und Arbeit funktioniert. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, solche Erfolge darzustellen. Diese Erfahrung, zum Beispiel die fruchtbare Zusammenarbeit mit Berlins Arbeitssenatorin Elke Breitenbach in Form von guter Aufgabenteilung, muss man in größere Dimensionen tragen. Zweitens wird es um Strukturwandel gehen, der ja gerade in Berlin bereits 2019 einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verursacht hatte. Der dritte Punkt ist die Bekämpfung von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit, die wir in Berlin strukturell lange hatten, und wo ich aber meine, dass wir ganz gut vorangekommen sind. In Europa gibt es ähnliche Themen, von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir all das nur gemeinsam bewältigen können. Man muss zurück zu einer Selbstverständlichkeit in der europäischen Zusammenarbeit. Nationen können vom gegenseitigen Austausch erfolgreicher Praxis profitieren. Es wird meine Aufgabe sein, dies zu fördern.
Was nützt Weiterbildung, wenn es einfach zu wenige Arbeitsplätze gibt?
Ich habe keine Sorge, dass wir in Berlin zu wenige Arbeitsplätze haben werden. Ich mache das an folgenden Fakten fest: Selbst in der Coronakrise hatten wir hier in 2020 jeden Monat mehr sozialversicherte Beschäftigte als in 2019. Die Minijobber und die geringfügig Beschäftigten sind Verlierer der Krise - das betrifft 25 000 Menschen. Die Verlierer unter den Beschäftigten sind von den Jobs her ganz klar im Einzelhandel, Hotels und Gastronomie zu finden. Es gibt aber auch Gewinner wie die Bereiche Kommunikation, Gesundheitswesen und Erziehung. Unter dem Strich hatten wir in Berlin aber mehr Beschäftigte. Meine Vorhersage ist, dass die Herausforderungen nach der Krise die altbekannten sein werden: Demografie, Fachkräftemangel, digitale Transformation. Weiterbildung von Menschen gehört für mich daher zur zentralen Qualität von Arbeit. Wir werden aber auch Menschen sehen, die jetzt in der Krise von Entlassung betroffen waren, und sagen: Das möchte ich nicht noch mal erleben, ich möchte meinen Beruf wechseln. Hier gibt es viele Chancen, das Gesundheitswesen wird nachher eine große Aufnahmefähigkeit beweisen. Das heißt: Branchen, die jetzt sehr stark gelitten haben, müssen im Hinblick auf die Qualität der Arbeit viel tun, um ihr Personal zukünftig zu halten oder gegebenenfalls wieder zurückzugewinnen. Das Handlungsfeld »Qualität der Arbeit« wird nach der Krise zentral sein. Betrachten Sie auch den stationären Handel, der in einer echten Strukturkrise ist. Angesichts des Onlinekaufs vieler neuer Kunden wird sich die Frage stellen, ob wir so viele Menschen nachher noch mal im Handel benötigen, der ganz anders aussehen wird als vor der Krise. Damit werden wahrscheinlich viele Arbeitsplätze entfallen und Alternativen müssen gesucht werden - für die Menschen und Unternehmen.
Die Coronakrise trifft in punkto Arbeitslosigkeit zuerst junge Menschen und Migranten. Wie könnte man denen helfen?
Ich würde in Ihrer Aufzählung gerne die Ungelernten ergänzen. Häufig sind starke »Hemmnisse« - bei jungen Menschen, Migranten, Älteren - in einer Person vereint. Ganz große Sorgen für Berlin macht uns dieser hohe Anteil der Menschen ohne Berufsabschluss, die in der Coronakrise als erste von Entlassungen betroffen waren. Aber zunächst zu den Geflüchteten: Wir haben uns in Berlin von Anfang an eng abgestimmt, zum Beispiel auf die Sprachausbildung geachtet. Wir haben mit der Senatsarbeitsverwaltung komplementär gearbeitet. Komplementär heißt: was das Land macht, braucht nicht der Bund noch mal zu machen - und umgekehrt. Damit gab es keine Konkurrenz oder Duplizierung. Es gab anfangs Lücken der Förderung, die muss man schnell identifizieren und dann handeln. Als gute Erfahrung betrachte ich auch die Jugendberufsagentur. Das Konstrukt zeigt, dass verschiedenste Akteure in ihrer Zuständigkeit unter einem Dach zusammenarbeiten müssen. Wenn ein Jugendlicher verschiedene Probleme hat, darf er nicht wie früher von Pontius zu Pilatus im Bezirk herumgeschickt werden. Gut abgestimmte, schnelle Unterstützung in komplexen Zuständigkeiten ist das Leitmotiv.
Inwiefern betrifft das Ungelernte besonders?
Wir müssen unbedingt über die Bekämpfung von Bildungsarmut und Bildungsdiskriminierung reden. Viele junge Menschen kommen ohne Schulabschluss und dann ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt. Berufslos heißt dann arbeitslos und dauerhaft keine gute Lebensperspektive. Berlin hat da im Bundesvergleich immer noch einen Spitzenwert. Ich befürchte, dass die Pandemie die Lage noch weiter verschlechtern wird. Die Mutter der Probleme der Menschen am Arbeitsmarkt ist Bildungsarmut. Sie beginnt in den Schulen und der sozialen Herkunft und hält häufig ein ganzes Leben lang an. Gerade in einer Wissensgesellschaft wie der unseren wird Bildung immer zentraler. Etwas zu verändern kostet später unglaublich viel Intensität und Geld. Deshalb würde ich mir wünschen, dass mehr junge Menschen in Berlin den Schulabschluss schaffen, um bessere Startvoraussetzungen zu erhalten. Wir haben hier so viele Potenziale und lassen sie brach liegen, verursachen damit viele Folgeprobleme. Die Jugendberufsagentur hat in der Coronakrise den Kontakt zu jungen Menschen verloren, die in schwierigen sozialen Milieus leben. Den Kontakt müssen wir jetzt wieder etablieren. Diese Krise birgt das Risiko, dass gerade die, die stets schlecht starten, noch schlechtere Chancen haben werden. Das zu verhindern, ist mein großer Wunsch. Ich bin mir aber auch sicher, dass daran intensiv gearbeitet wird.
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