Sie liebt dich, sie liebt dich nicht
Beklemmender Horrorthriller: Der Film »Run« zeigt eine gefährlich fürsorgliche Mutter
Besitzergreifende Frauen randalieren spätestens seit »Psycho« als Genrestereotypen durch den US-Thriller. Bei Hitchcock glänzte die Mutter noch durch Abwesenheit, war aber postum präsent im Tun ihres Sohnes, der den mütterlichen Narzissmus - du sollst niemanden lieben außer mir - mit dem Messer an Frauen unter der Dusche ausagierte. Später dann »Carrie«, »Braindead«, »Coraline« und viele andere mehr, immer in unterschiedlichen Konstellationen. Als Mütter codiert waren die Figuren auch dann, wenn sie, wie Kathy Bathes in »Misery«, keine waren. Die Bilder von possessiven, symbolisch kastrierenden Frauen sind oft als Bilder einer fehlgeschlagenen Mutterliebe codiert.
In dem neuen Thriller »Run« ist die Tochter, Chloe (Kiera Allen), an den Rollstuhl gefesselt, dazu kommen Diabetes, Asthma und noch einige Krankheiten mehr. Mutter Diane (Sarah Paulson) ist sehr, sehr fürsorglich - und die genrebewusste Zuschauerin ahnt bereits nach dreieinhalb Minuten, das hier etwas nicht stimmt. Chloe bemerkt, dass etwas mit einem ihrer vielen Medikamente nicht in Ordnung ist und fängt an, von ihrer Mutter dezent mehr und mehr von der Außenwelt isoliert, zu recherchieren. Wo aber »Psycho« die Auflösung des Rätsels bis zum Schluss aufschob, tut »Run« gar nicht so, als würde er sich für sein Rätsel interessieren, sondern setzt auf Körperhorror, der hier verbunden ist mit Immobilität, einem Rollstuhl, unüberwindbaren Treppen und so weiter.
Kiera Allen ist (wahrscheinlich) nach Susan Peters’ Rolle in »The Sign of the Ram« (1948) die zweite Schauspielerin in einem amerikanischen Thriller, die auch jenseits der Leinwand auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die Weise, in der Allen sich hier mit ihrem Rollstuhl (und später dann auch ohne) vor der Kamera bewegt, kann man wahrscheinlich auch in drei Jahren Method-Acting-Seminar nicht lernen. Was nicht so sehr mit Authentizität zu tun hat, sondern mit dem Erlernen des Gebrauchs einer Technik, die, so wirkt es, zu einer Art Teil des eigenen Körpers geworden und also mehr als eine Prothese ist.
Aus den Inszenierungen der Verfolgungsjagden und den Versuchen der Tochter, sich den von der Mutter besetzten und versperrten Raum körperlich zurückzuerobern, bezieht »Run« seine Energie. Sie wird leider unterlaufen durch ein ausgeprägtes Desinteresse an allem anderen, was in dieser Konstellation interessant sein könnte. Die Figuren bleiben flach. Die Mutter ist beispielsweise nicht in einer aufschlussreichen Weise narzisstisch, sondern hat einfach einen eindimensionalen Dachschaden. Und ein irgendwie reflektierter Blick auf die ja nun auch nicht unproblematische Genrefigur der kastrierenden Frau ist hier schon gar nicht zu haben.
Aber psychologische Tiefe ist gar nicht so sehr der Punkt. So etwas fällt einem ja eh meist im Nachgang auf. Was während des Sehens komplett fehlt, ist etwas in irgendeiner Weise Überraschendes. Wer in seinem Leben ein paar amerikanische Thriller gesehen hat, ahnt eigentlich durchgängig, was in den nächsten fünf Minuten oder auch in der nächsten Viertelstunde passieren kann. Es gibt zwei, maximal drei standardisierte Möglichkeiten, eine davon trifft ein. Dass macht »Run« dann doch leider fad.
»Run«. Regie: Aneesh Chaganty. USA/Kanada 2020. 89 Minuten. Als DVD und digital (Leonline).
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