Der Schulstreit ist entfacht

Die Bundesländer werden den Lockdown in der Bildung weiterhin unterschiedlich handhaben

Die Verhandlungen beim Bund-Länder-Treffen dauerten am Dienstag bis in den Abend hinein und verliefen ungewohnt emotional. Als sich Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, darüber beschwerte, dass die Schulen weiterhin geschlossen bleiben sollen, im Gegenzug die Union aber die Unternehmen schonen und nicht einmal Verpflichtungen zum Gewähren von Homeoffice beschließen wolle, reagierte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ungehalten: »Das lasse ich mir nicht anhängen, Frau Schwesig, dass ich Kinder quäle und die Arbeitnehmer missachte«, zitiert sie die »Bild«-Zeitung. Letztlich wurde jedoch beides beschlossen. Die Beschäftigten sollen fortan so häufig wie möglich von zu Hause aus arbeiten, während Schulen und Kindergärten bis zum 14. Februar geschlossen bleiben.

Die Kanzlerin drängte auch bei diesem Treffen mit den Länderchefs auf eine Verschärfung der Maßnahmen. Die Angst insbesondere vor mutierten Virusvarianten unter anderem aus Großbritannien ist groß, weil sie als hochansteckend gelten und es auch Hinweise darauf gebe, dass sie sich bei Kindern ähnlich ausbreiten wie bei Erwachsenen, erklärte Kanzleramtsminister Helge Braun im Gespräch mit dem Sender RTL. Bislang gingen Virologen davon aus, dass Kinder bis zu zehn Jahren weniger häufig an dem Coronavirus erkranken; Kindergärten und Schulen galten bisher nicht als Infektionsherde.

Die Lehrerverbände begrüßten den Beschluss von Bundesregierung und Ministerpräsidenten. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, erklärte, Schulen seien sehr wohl auch »Teil des Infektionsgeschehens«. Lockerungen wären daher ein Wagnis. Möglicherweise müssten die Schulen dann innerhalb kürzester Zeit wieder geschlossen werden. Das »wäre das Verkehrteste, was man tun kann«, sagte Meidinger der »Augsburger Allgemeinen«. Auch der Verband Bildung und Erziehung unterstützt die Bund-Länder-Vereinbarung und dringt auf eine restriktive Umsetzung, wie es der Beschluss vorsieht. »Diesen sollten die Kultusministerien ernstnehmen und entsprechend agieren«, forderte der Verbandsvorsitzende Udo Beckmann gegenüber dem »Redaktionsnetzwerk Deutschland«. Die Art, wie die Beschlüsse in der Vergangenheit umgesetzt worden seien, lasse einen teils fassungslos zurück, sagte er.

Doch die Handhabung in den Ländern wird vermutlich auch weiterhin nicht einheitlich sein. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kündigte bereits kurz nach dem Ende der Beratungen an, die Schulen entgegen dem Beschluss womöglich schon Anfang Februar vorsichtig zu öffnen, wenn die Infektionslage dies zulasse. Auch Mecklenburg-Vorpommern agiert weniger restriktiv als andere Länder. Die bestehenden Regelungen für Schüler seien hart genug und sollten nicht noch weiter verschärft werden, sagte Schwesig am Mittwoch dem Sender NDR Info. Lediglich in Landkreisen mit einem Inzidenzwert von über 150 gibt es in Kitas und Grundschulen eine Notbetreuung. Liegt der Wert darunter wie etwa in Rostock oder Schwerin, bleiben Kindergärten und Schulen bis zur sechsten Klasse geöffnet. In anderen Ländern wie Hessen oder Bayern gibt es in den Grundschulen generell eine Notbetreuung. An weiterführenden Schulen gilt Distanzunterricht, ausgenommen davon sind die Abschlussklassen.

Die Erziehungsgewerkschaft GEW kritisierte diese unterschiedlichen Regelungen. Der Bund-Länder-Beschluss lasse zu viele Schlupflöcher zu, sagte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe dem »Redaktionsnetzwerk Deutschland«. Weil es den Ländern selbst überlassen sei, wie sie die Vereinbarung umsetzten, bleibe der »föderale Flickenteppich in der Bildung«. Tepe glaubt aber, dass sowohl Pädagogen als auch Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern ein bundesweit einheitliches Vorgehen wünschten. Schulen und Kitas bräuchten einen verlässlichen Stufenplan, der vorgebe, wie bei welchen Inzidenzwerten vorgegangen werde, so Tepe.

Für eine geregelte Rückkehr zum Präsenzunterricht hat sich in den vergangenen Wochen auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) stark gemacht. Entsprechend skeptisch äußerte sie sich jetzt zu den Überlegungen Kretschmanns, die Schulen und Kitas womöglich schon Anfang Februar zu öffnen. Giffey forderte, es müssten bundesweit einheitliche Regelungen durchgesetzt werden. Vorerst gelte es, bei den Einschränkungen »sehr konsequent« zu sein. Die kommenden drei Wochen müsse durchgehalten werden; die Eltern bat sie um Verständnis. Erst für die Zeit danach stellte sie Lockerungen in Aussicht.

Je länger allerdings in den Schulen der Distanzunterricht andauert, desto größer sind auch die Einschnitte in den Lehrplänen. Lehrerpräsident Meidinger sorgt sich daher um die »Lerndefizite« insbesondere bei jüngeren Schülern. Der Förderbedarf werde zunehmen, erklärte er. Dafür müsse die Politik ein Konzept vorlegen, wie man diese Kinder unterstützen könne.

Bayern hat bereits am Montag auf die besondere Situation in den Schulen reagiert und alle Abschlussprüfungen um mehrere Wochen verschoben. In Thüringen wird am Freitag im Landtag über leichtere Prüfungen diskutiert. In der Kritik ist dort die »Besondere Leistungsfestestellung« in den zehnten Klassen der Gymnasien; die Grünen wünschen sich, diese per Verordnung auszusetzen.

Besorgt über den verlängerten Lockdown äußerten sich auch Experten der Kinder- und Jugendmedizin. »Wir wissen mit Sicherheit, dass eine ganze Generation von Schülern infolge der jetzigen Beschlüsse ein Leben lang Nachteile erfahren wird«, sagte der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Hans-Iko Huppertz, der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Die derzeit entstehenden Bildungsdefizite würden dazu führen, dass die Schüler im späteren Leben nicht dazu in der Lage seien, ihre Potenziale auszuschöpfen. Gravierend seien auch die zu befürchtenden psychosozialen und motorischen Auswirkungen, die durch die anhaltenden Schulschließungen bei Kindern und Jugendlichen entstünden. Huppertz warnt vor einer Zunahme von Fettleibigkeit und Online-Spielsucht, spricht von Ängsten und Aufmerksamkeitsstörungen. Schwierig sei die Situation insbesondere für Kinder, die in prekären Verhältnissen leben.

Dies sind bekannte Nebenwirkungen von Schulschließungen und Homeschooling, die bei den Beratungen von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten keine Berücksichtigung gefunden haben.

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