Urlaubsreisen nein, Abschiebungen ja

Leo Fischer über ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis, das auch unter Corona befriedigt wird

In Krisenzeiten, möchte man meinen, kristallisiert sich besonders heraus, was einer Gesellschaft wichtig ist, auf was sie auf keinen Fall verzichten kann. Dass der deutsche Arbeitsfetisch auch in einer Pandemie knallhart durchschlägt, wurde schon vielfach beobachtet. In einem Land mit unvergleichlich niedrigen Krankenzahlen, in dem es eine Zeit lang als Tugend gefeiert wurde, wenn Mitarbeitende sich hustend, keuchend oder todkrank ins Büro schleppten, war die Fortsetzung der Arbeit auch während einer Pandemie um jeden Preis angezeigt, in allen Branchen. Gleich, wie sinnlos die Arbeit, wie lächerlich ihr Ertrag vor dem tödlichen Preis, den sie kostet: Es muss gearbeitet werden, bis zum Tode, denn andere Quellen von Glück und Lebenssinn sind längst erloschen oder hinwegrationalisiert.

Was ebenso weiterging, konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste: Abschiebungen, Abschiebungen inmitten einer galoppierenden weltweiten Seuche. Abschiebungen sind so selbstverständlich Teil politischen Handelns geworden, über das gesamte Parteienspektrum hinweg, dass nur mehr das Wie, nicht mehr das Ob diskutiert werden kann, ohne sich lächerlich zu machen. »Straftäter abschieben«, einst eine reine NPD-Forderung, ist vollkommener Mainstream geworden; wer vom Grundrecht auf Asyl spricht, muss sich auch von Sozialdemokraten Belehrungen über ein fiktives »Gastrecht« gefallen lassen.

Nach Schätzungen von Initiativen gab es seit dem 1. November über 50 Massenabschiebungen, mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die exakten Daten werden geheim gehalten; Landesregierungen möchten den Medienaufruhr vermeiden und bekämpfen inzwischen Versuche, auf Abschiebetermine hinzuweisen oder dagegen zu protestieren, mit Änderungen im Strafrecht. Kein wunder: Solidarität macht die so teure wie unmenschliche Praxis für die Ministerien noch kostspieliger.

Informationen der Initative »No Borders Assembly« zufolge scheiterten 2019 die Hälfte der über 50 000 Abschiebeversuche, von denen fast jeder mit erheblichem Polizeiaufwand und mehreren Einsätzen verbunden war. In der Pandemie dürften die Kosten noch einmal deutlich höher sein. Ein ungeheures Geld, ein ungeheurer Personalaufwand, für die Fortsetzung von ungeheurem menschlichen Leid. Doch in der Pandemie ist dafür Geld da, Geld ohne Ende.

Spektakulär der Fall vor wenigen Tagen in Wien, als drei minderjährige, in Österreich geborene Schülerinnen am frühen Morgen mit enormem Polizeiaufgebot, scharfen Hunden und unter dem hämischen Gelächter der Beamten nach Georgien und Armenien abgeschoben wurden. Unter einer schwarzgrünen Regierung, die, das darf man auch für Deutschland erwarten, dasselbe tut wie eine schwarzblaue, nur mit einem schlechteren Gewissen und wertlosen Zerknirschungsgesten. Ein Fall von Zehntausenden, die unter dem Radar bleiben, die nicht die notwendige Aufmerksamkeit haben.

Man kann Restaurantbesuche aussetzen, aber nicht Abschiebungen; man kann Friseurbesuche begrenzen, aber nicht Abschiebungen. In Verhältnissen, in denen die Reisefreiheit ohnehin schon begrenzt wird wie nie, läuft die Abschiebeindustrie wie geschmiert, verdienen Fluggesellschaften mit Charterflügen und private Zuarbeiter der Behörden ein Vermögen. Alle Regeln sind aufgehoben, alles ist erlaubt, so lange abgeschoben werden kann. Denn bei allen Abgrenzungen zur AfD haben die Parteien doch verstanden, dass hier ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis erfüllt wird, auf dessen Befriedigung nicht einmal ein paar Tage verzichtet werden kann. Nicht einmal im Angesicht einer globalen Katastrophe.

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