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- Kapitalismus-Kritik
Ignoriert die Fratzen der Millionäre!
Die Kritik einzelner machtvoller Vertreter*innen des Kapitalismus ist sinnlos, wenn dieser selbst verschont wird
Seit jeher war es gute linke Sitte, im Kapitalismus keine Gesichter zu sehen, sondern Verhältnisse. Die Kritik einzelner Vertreter*innen der Kapitalist*innenklasse, so furchtbar sich diese auch gebärden mögen, verdecke zwingend die Analyse des ökonomischen Verhältnisses, verfalle in kleinbürgerlichen Moralismus und führe zu Revisionismus – man macht den Kapitalismus besser, statt auf seine Abschaffung hinzuwirken.
Die Art und Weise, in der er uns derzeit gegenübertritt, macht es allerdings scheinbar unmöglich, nicht zu personalisieren. In den USA tritt er uns als Kabinett der Superreichen gegenüber, deren persönliche Agenda jeden Tag konkrete globale Politik wird – vom wirren Impfsalbader als Gesundheitsminister bis zu Elon Musk, der im Ukraine-Krieg nach Gutdünken die Verbindung zu seinem Satellitennetzwerk abschaltet. Längst arrangiert sich liberal-demokratische Politik nicht mit der ideellen Gesamtkapitalist*in, sondern mit teils verschrobenen, teils gefährlichen Persönlichkeiten vom Schlage eines Peter Thiel. Bei den Salzburger Festspielen etwa besucht Bundestagspräsidentin Klöckner eine Party des Thiel-Mitarbeiters und österreichischen Ex-Bundeskanzlers Kurz, gegen den immer noch wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ermittelt wird – während ihr Fraktionskollege Dobrindt Thiels Software zur Massenüberwachung einsetzen möchte.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Beiden ist dabei schnuppe, dass Thiel die Demokratie als Hindernis sieht und von libertären Privatstaaten auf hoher See träumt – sie haben, wiewohl Politiker*innen der »Mitte«, keine Probleme, einen Antidemokraten mit dem Geld einer Demokratie zu alimentieren. Kritische Presse brauchen sie dabei nicht zu fürchten – Klöckner hat 120 000 Instagram-Follower*innen und damit mehr Fans als Qualitätszeitungen Abonnent*innen. Die Öffentlichkeit ist selbst in der Hand von Einzelpersonen: Statt in einem Habermas’schen Weltdiskursraum sitzen wir in einem privaten Wohnzimmer, in dem Mark Zuckerberg persönlich das Licht an- und ausmacht. Der wiederum wird auch immer abgedrehter, fabuliert über »Männlichkeit« als Tugend, inszeniert sich als Kampfsportler. Sein Klassenkamerad Bezos lässt seine Amazon-Beschäftigten in Flaschen pinkeln, während er sich sinnlose Weltraumreisen gönnt.
Die Struktur der Medien, allen voran die Ökonomie der Influencer*innen, begünstigt Personalisierung. Milliarden Menschen identifizieren sich mit neoliberalen Mikro-Elons, weil sie hoffen, selbst einer zu werden – das System stabilisiert sich durch Nachahmung. Personalisierte Kritik mag da als Versuch erscheinen, noch durchzublicken – in einer Realität, in der der Kapitalismus von seinen Charaktermasken nicht mehr zu trennen ist.
Aber aus der Empörung über immer neue Milliardäre lässt sich analytisch kaum etwas gewinnen – außer der Hoffnung, dass der nächste bitte ein bisschen netter sein möge. Bei allem Unheil, dass Musk und Thiel als Individuen über die Welt bringen, bleiben sie doch nur: Repräsentant*innen. Es sind nicht ihre Launen, die uns gefährlich werden – sondern die Tatsache, dass das System ihre Launen überhaupt real werden lässt.
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