A100 in Berlin: Verkehrspolitik für Porschefahrer

Deutschland rast mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Vergangenheit, kommentiert Leo Fischer

Selbst die Autofahrer verbinden mit dem neuen A100-Abschnitt bislang nur angestauten Frust.
Selbst die Autofahrer verbinden mit dem neuen A100-Abschnitt bislang nur angestauten Frust.

Deutschland hat kein Tempolimit. Während die am schnellsten wachsenden Gesellschaften der Welt auf Energie von Sonne und Winde setzen und anderswo in Europa die Öffis kostenlos gemacht sowie Innenstädte begrünt werden, legt Deutschland das 20. Jahrhundert in Aspik – mitsamt seiner Staus, Stickoxide und Statusneurosen. Die Erweiterung der A100 in Berlin-Treptow, ein sündhaft teurer Staumagnet, ist dafür Sinnbild: Nichts funktioniert, dafür hat man es den »grünen Ideologen« gezeigt.

Die deutsche Verkehrspolitik ist keine Infrastrukturfrage, sie ist Klassenpolitik. Es geht nicht darum, wie Menschen von A nach B kommen – sondern wie man diesen Weg für die Vermögenden möglichst bequem macht. Dabei gibt sich diese Klassenpolitik auch mal ökologisch. In Frankfurt etwa gibt es genau zwei verkehrspolitische Ambitionen: Wie kommen die Taunus-Millionäre am Wochenende möglichst stressfrei zum Shoppen in die Stadt? Und wie kann man der Ökobourgeoisie im Nordend das Gefühl geben, dass an ihre E-Autos und Lastenräder gedacht wird? Wer nicht zu diesen Gruppen gehört, muss sich in stinkenden S-Bahnen zusammenpferchen lassen. Geschieht einem doch auch recht, wenn man arm ist!

Leo Fischer
Leo FischerFoto ist privat, kein Honorar

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Die Subventionen, die in den Erhalt des Autoparadieses gesteckt werden, spotten jeder Beschreibung: Dienstwagenprivileg, Abwrackprämie, Pendlerpauschale sind nur die häufigsten Stichwörter. Ein neues Haus muss von Rechts wegen Parkplätze ausweisen – auch wenn nicht eine*r der Bewohner*innen ein Auto besitzt. Wenn ein VW-Manager die halbe Welt bescheißt, wandert er in den USA in den Knast – in Deutschland wird er zu einem Runden Tisch geladen, in welchem Minister entscheiden, die später gern in den VW-Aufsichtsrat wechseln möchten.

Das funktioniert, weil die »Freiheit des Autos« längst zum Kristallisationspunkt eines antisozialen Freiheitsbegriffs geworden ist. Azubis im dritten Lehrjahr verschulden sich fürs ganze Leben, um mit einem geleasten BMW den Eindruck zu erwecken, sie hätten es geschafft – bevor sie sich am Wochenende um den berühmten Baum wickeln. Straßenrennen mit tödlichem Ausgang führen nur zu symbolischen Strafen. In Berlin werden 30er-Zonen abgewickelt, weil die Luft inzwischen zu gut geworden ist. Den 600 pro Jahr verunglückten Berliner Kindern ruft die Verkehrssenatorin hinterher, sie hätten besser Helm getragen und wären vorsichtiger gewesen.

Diese bizarre Parallelwelt zu erhalten aus zärtlicher Rücksichtnahme auf eine Autoindustrie, die trotz drohender Pleite ihr Geschäftsmodell nicht ändert, ist die eigentliche Ideologie. Aber warum sollte sich die Industrie ändern, wenn sie von der Politik gepampert wird? Und warum sollte sich die Politik ändern, wenn sie von der Industrie gepampert wird? Die vernünftigen Gegenmodelle liegen alle auf dem Tisch – aber sie klingen halt nicht so aufregend wie die jahrzehntelang in die Hirne gebrannten Narrative von Freiheit und Abenteuer – dem Abenteuer, bis zur nächsten Ampel die Motoren heulen zu lassen; und der Freiheit, auf der Autobahn versehentlich Familien auszulöschen.

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