»Das Parteiensystem ist polarisiert«

Professor Klaus-Jürgen Nagel über die geringen Aussichten auf eine stabile Regierung in Katalonien

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Sonntag finden mitten in der Covid-19-Pandemie Regionalwahlen in Katalonien statt. Umfragen sagen einen Rückgang der Wahlbeteiligung bis zu 20 Prozentpunkten voraus. Ist das vor allem auf die Pandemie zurückzuführen oder auch darauf, dass die Unabhängigkeitsbewegung ihr Momentum verloren hat? Zu ihrem Höhepunkt Ende 2017 gab es eine Rekordwahlbeteiligung von fast 80 Prozent.

Die Wahlbeteiligung 2017 war außergewöhnlich hoch. Es war eine Ausnahmesituation, in der alle Lager mobilisierten. Die Wahlen fanden kurz nach dem nicht mit Madrid abgestimmten Unabhängigkeitsreferendum statt, in dessen Folge Katalonien unter spanische Zwangsverwaltung gestellt und Neuwahlen für den 21. Dezember von der Zentralregierung einberufen wurden.

Bei diesen Wahlen sollten aus Sicht von Madrid die Richtigen gewinnen: die Unionisten, wie das pro-spanische Lager genannt wird, und nicht die Parteien, die beim Unabhängigkeitsprozess mitgemacht haben. Die mobilisierten daraufhin zusätzlich und mit Erfolg. Wenn es jetzt einen Rückgang bei der Beteiligung geben wird, werden erst die Nachwahlanalysen zeigen, wie viel davon auf Angst vor Covid-19 zurückzuführen und wie viel auf sinkendes Mobilisierungspotenzial der Parteien. Vor 2015 waren Wahlbeteiligungen um die 60 Prozent die Regel.

Klaus-Jürgen Nagel

ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona. Seine theoretischen Fachgebiete sind Nationalismus, Föderalismus und die Geschichte Kataloniens. Er ist unter anderem Autor des Buches »Katalonien - Eine kleine Landeskunde« von 2007, das leider vergriffen ist. Über den Stand des Unabhängigkeitsprozesses rund um die Regionalwahlen am 14. Februar sprach mit ihm für »nd« Martin Ling.

2017 erreichten die drei Parteien der Unabhängigkeitsbewegung, die liberalkonservative JxCat (Gemeinsam für Katalonien), die linkssozialdemokratische republikanische Linke (ERC) und die linksradikale CUP zusammen zwar nicht 50 Prozent der Stimmen, aber wie schon 2015 mehr als 50 Prozent der Sitze. Ist das 2021 wiederholbar?

Die Umfragen schwanken. Anfangs wurden sogar absolute Mehrheiten bei Stimmen und Sitzen für den getrennt antretenden Dreiparteienblock vorausgesagt, inzwischen nur noch eine eventuelle absolute Mehrheit der Sitze. Die katalanische Regierung aus JxCat und ERC wollte wegen der Pandemie die Wahlen auf den 30. Mai verschieben. Nur die katalanischen Sozialdemokraten (PSC) hatten Bedenken gegen die Verschiebung. Aus ihren Kreisen kam einer der Anträge an das Oberlandesgericht, die Verschiebung zu untersagen. Dem hat das Gericht stattgegeben. Daraus lässt sich schließen, dass sich die PSC derzeit bessere Wahlchancen ausrechnet als vielleicht später.

Der rechtsradikalen VOX wird zum ersten Mal der Einzug ins katalanische Parlament vorausgesagt. Ein Ausdruck der Polarisierung der Gesellschaft?

Die Polarisierung fing früher an: 2010 mit dem Urteil des spanischen Verfassungsgerichts über das katalanische Autonomiestatut von 2006, das in wesentlichen Teilen kassiert wurde. Seitdem hat sich vor allem das Parteiensystem polarisiert in Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, und andere, die das ablehnen. Die Gesellschaft ist weniger polarisiert, das Zusammenleben funktioniert trotzdem. Der Aufschwung der VOX erklärt sich durch den Abschwung der Bürgerpartei Ciutadans (Cs), die bisher am radikalsten gegen den Unabhängigkeitsprozess mobil gemacht hatte. Die Cs befindet sich in einem Zerfallsprozess, sie wird die Hälfte bis zu zwei Drittel ihrer Sitze voraussichtlich verlieren. Diese Stimmen im unionistischen Lager werden neu verteilt. Die VOX punktet hier als radikalste Stimme gegen den katalanischen Unabhängigkeitsprozess. Damit machte VOX selbst bei den Wahlen in Andalusien Punkte. VOX tritt für die Abschaffung der Autonomien überhaupt ein und will eine Rückkehr zu einem reinen spanischen Zentralstaat.

Die VOX ist neu als Faktor hinzugekommen. Wie hat sich das Parteienspektrum in Katalonien seit 2017 ansonsten in und zwischen den Lagern pro und kontra Unabhängigkeit entwickelt?

Der Wahlkampf ist ein Lagerwahlkampf. Die zentrale Frage im Unabhängigkeitslager ist, welche Lehren man aus 2017 ziehen soll, als es ein erfolgreiches Unabhängigkeitsreferendum und eine gescheiterte Unabhängigkeitserklärung gab.

Beide Lager haben sich aufgespalten. 2017 traten drei Parteien im Unabhängigkeitslager an, jetzt sind es fünf, weil sich von der liberalkonservativen JxCat mit PDeCAT und der PNC zwei katalanisch-nationale Parteien abgespalten haben. Das Lager der Unionisten setzt sich aus der Bürgerpartei, der konservativen Volkspartei PP, den Sozialisten vom PSOE und nun eben VOX zusammen. Zwischen den Lagern befindet sich En Comú Podem, deren bekannteste Vertreterin Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau ist. Sie treten für das Selbstbestimmungsrecht und ein Referendum ein, sind aber nicht entschieden für die Unabhängigkeit.

Die Parteien der Regierungskoalition JxCat und ERC sind über den weiteren Weg zerstritten. JxCat besteht darauf, die Resultate des von Spanien nicht gebilligten Unabhängigkeitsreferendums von 2017 umzusetzen. Dagegen hält die ERC diesen unilateralen Weg für momentan gescheitert und plädiert für einen Dialog mit der sozialdemokratischen Minderheitsregierung von Pedro Sánchez (PSOE) mit seinem Juniorpartner Pablo Iglesias (Unidas Podemos). Findet der in der Pandemie statt?

Der findet nicht statt. Es sieht so aus, als würde die PSOE das Problem aussitzen wollen. Für Unidas Podemos ist der Katalonien-Konflikt ebenfalls unangenehm, weil das Gros seiner Wähler entweder aus der Region Madrid oder aus der Peripherie kommt und sie da mit ihrer Haltung pro Selbstbestimmungsrecht für Katalonien nicht überall punkten können. Da der Dialog nicht stattfindet, kommt die katalanische ERC in die Bredouille. Die ERC hat mit ihren Stimmen in Madrid sowohl Pedro Sánchez ins Ministerpräsidentenamt gehievt als auch den Haushalt mitgetragen. Eine sichtbare Gegenleistung blieb aus. Das könnte Stimmen kosten, auch wenn die ERC bei Umfragen noch knapp vor JxCat liegt.

Die PSC, katalanischer Ableger der sozialdemokratischen PSOE, hat mit ihrem Spitzenkandidaten, dem nach Katalonien gewechselten Gesundheitsminister Salvador Illa, in den Umfragen deutlich zugelegt. Illa wirbt mit dem Ende der »Dreiparteienherrschaft« von JxCat, ERC und CUP. Ist eine Koalition zwischen PSC und ERC denkbar?

PSC und ERC allein dürften für eine Mehrheit kaum reichen. En Comú Podem wäre aber sicher bereit, eine solche lagerübergreifende Linksregierung zu unterstützen. Es ist aber schwer vorstellbar, dass PSC und ERC nach den Wahlen zusammenfinden können. Salvador Illa versucht durchaus erfolgreich, im unionistischen Lager Stimmen einzusammeln. Die ERC könnte Illa, sollte er die Wahl gewinnen, als Ministerpräsident nicht stützen, ohne ihre eigenen Wähler zu verprellen. Und dass die PSC im Falle eines Wahlsieges der ERC deren Spitzenkandidaten Pere Aragonès untersützt, ist auch schwer vorstellbar, weil es da starke Widerstände aus der Mutterpartei PSOE geben wird. Das geht hin bis zum Vorwurf des Verrats an der spanischen Nation, wenn man in Katalonien mit einer Unabhängigkeitspartei wie der ERC gemeinsame Sache macht.

Das hört sich nicht danach an, als würden die Wahlen zu mehr Stabilität führen.

Nein, davon gehe ich nicht aus. Ich vermute, dass es sowohl in Katalonien als auch in Spanien bei Minderheitsregierungen bleiben wird. Und damit dürfte sich auch der konfliktive Umgang miteinander fortsetzen.

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