Die Angstgemeinschaft

»Die Welt nach Corona« - von den Risiken und Nebenwirkungen, aber auch Chancen einer Krise

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Thema treibt nachdenkliche Menschen um: »Die Welt nach Corona«. Wie wird sie aussehen? Werden wir überhaupt aus der Pandemie herauskommen, wird Covid-19 gar auf Dauer unser Begleiter sein, in immer neuer, mutierter Form? Aber der Lockdown wird doch bald aufgehoben werden? Oder sind die Hoffnungen auf Lockerungen verfrüht? Wird es je wieder volle Theater und Fußballstadien geben wie zuvor? Werden sich Menschen wieder umarmen ohne Furcht? Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Doch sollte man sich von dem zugkräftigen Titel dieses jüngst erschienenen Bandes durchaus verlocken lassen. In über 50 Texten werden aus linker Perspektive Aspekte einer Krise analysiert, die mit dem Wort Corona noch nicht ausreichend erklärt ist.

Die Pandemie ist lediglich ein Auslöser dafür, dass sich etwas verändern wird. »Risikokapitalismus im Weltausnahmezustand« - mit seinem einleitenden Text stellt Herausgeber D.F. Bertz die gesundheitlichen Probleme deshalb in einen größeren Zusammenhang. Ohne Frage begünstigen Kapitalismus und gewissenlose Ausbeutung der Natur das Entstehen solcher Pandemien. Die Globalisierung des Virus ist übrigens vorausgesagt worden. Der Autor zitiert eine Studie des Robert-Koch-Instituts von 2012, dessen Aussagen verblüffende Parallelen zur derezeitigen Situation aufweisen. Auch auf das im März 2020 aus dem Bundesinnenministerium geleakte Papier geht er ein, »das Sinn und Zweck der staatlichen Operationen und Notfallverordnungen offenlegt«. Die Folge: »Im Angesicht der Corona-Gefahr formierte sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht als Vernunft- und Solidargemeinschaft (das sicher auch), sondern als Angstgemeinschaft - dazu beigetragen hat auch ein Teil der etablierten Medien.«

Es gibt schon mehrere Bücher zum Thema, aber noch kein so umfassendes wie dieses. Die Auswahl der Autoren, von denen einige aus dieser Zeitung bekannt sind, ist exzellent. Diskutiert wird die »Corona-Krise der Krankenhäuser«, die Situation in den Altenheimen und Flüchtlingsunterkünften, die Lage der Beschäftigten in »systemrelevanten Berufen«, die schwierige Situation von Frauen, denen - gerade unter den Bedingungen von Kita- und Schulschließungen - die größten Lasten zufielen, das Ansteigen häuslicher Gewalt, die Lage in den Gefängnissen bis hin zur Frage, wie »Sex mit Mindestabstand« denn möglich sein soll.

Ein großer Gewinn bei der Lektüre dieses Buches ist es, dass sich hier über Deutschland hinaus der Blick weitet auf den Umgang anderer Staaten mit der Pandemie. Von China bis zu den USA, von Russland bis Syrien und differenziert in verschiedenen Ländern der EU von Schweden bis Ungarn wird dargestellt, wie verschiedene Regierungen auf die Herausforderung reagierten. Da ist auch Überraschendes versprochen, was der kolonial geprägten Wahrnehmung Afrikas entgegensteht. Wie Demba Sanoh berichtet, wird in Senegal zum Beispiel ein preisgünstiger Schnelltest zum persönlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt. In Tunesien wurde der Prototyp eines Beatmungsgeräts speziell für Covid-19-Patienten entwickelt und weltweit zugänglich gemacht. In Marokko bauten Studierende eine Drohne, die Test-Kits in entlegene Regionen des Landes transportiert. In diesen und anderen Beispielen sieht der Autor »eine interkontinentale Solidarität, die der Europäischen Union im Kampf um medizinische Güter oft abgeht«.

Der Kapitalismus ist per se keine Solidargemeinschaft. Ein System, das auf Konkurrenz und sozialer Ungerechtigkeit beruht, begünstigt Egoismen aller Art. Dass die EU eben nur bis zu einem gewissen Grade zu gemeinsamem Handeln imstande war, dass sich da Gesundheit auch mit Geopolitik verknüpfte, ist enttäuschend, war aber auch zu erwarten. Da hat die Seuche nur deutlicher gemacht, was ohnehin an Widersprüchen vorhanden war, diese aber gleichzeitig auch überdeckt, weil alle mit den aktuellen Bedrohungen beschäftigt sind. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Text von Stephan Kaufmann und Antonella Muzzupappa. Unter dem Titel »Ein Virus bringt die Weltwirtschaft ins Wanken« analysieren sie die Finanzkrise, die sich bereits vor Corona zugespitzt hat. Schon 2019 drohte eine Rezession. Einen drastischen Anstieg der öffentlichen Schulden gab es seit Langem. Wenn der Staat jetzt die Wirtschaft mit Krediten zu retten sucht, werden die Folgen weitreichend sein, zumal eine kapitalistische Gesellschaft die Pandemie »unter Berücksichtigung der Profitmaximierung bewältigen muss«.

Oder geht es doch anders? Kann die Krise auch »als Chance« begriffen werden, wie es mehrere Autoren versuchen? Sozial-ökonomische Transformationen unter Wahrung der Herrschaftsverhältnisse - wie soll das gehen? Oder wird uns der autoritäre Politikmodus auch später erhalten bleiben, das staatliche Durchregieren, das auf beklemmende Weise auch mit einer Konjunktur militärischer Rhetorik verbunden ist? Inwieweit werden sich andererseits Klassenkämpfe verstärken - und mit welchen Folgen? Wer solche Fragen durchdenken will, ist mit diesem Band gut aufgehoben. Eine kritische Anmerkung noch: Um einen Text zu lesen, sich gar etwas herauszuschreiben, ist Findigkeit vonnöten, damit das Buch nicht immer wieder zuklappt. 729 Seiten in Klebebindung - das geht einfach nicht!

D. F. Bertz (Hg.): Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustandes und der kommenden Gesellschaft. Bertz + Fischer, 729 S., br., 24 €.

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