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Stilles Refugium oder einsame Verbannung?
Schloss Wiepersdorf – ein Erfahrungsbericht
Manchmal werden die Märchen auf merkwürdige Weise wahr. Hier in Wiepersdorf etwa, dem auch heutzutage noch aufreizend stillen Dorf in Teltow Fläming, anderthalb Autostunden von Berlin, wo sich Achim und Bettina von Arnim 1814 niederließen.
Ein Schloss? Damals eher ein Gutshaus mittlerer Größe und nicht in bestem Zustand. »Niederlassen« ist ebenso falsch, Achim von Arnim war aus Berlin geflüchtet, weil er dort selbst für einen verarmten Adligen zu arm war und man ihn als Autor nicht gerade schätzte. Also das einfache Landleben als Selbstversorger! Achim von Arnim wirtschaftet gern auf seinem Gut, zwischen Viehzucht und Feldarbeit, Bettina aber – die Schwester von Clemens Brentano – ist das Leben hier ein Gräuel. Was für eine Langeweile! Nichts als Wälder, Felder und einige Bauern, mit denen sie nichts zu bereden hat.
Also bleibt sie die meiste Zeit in Berlin und er hier draußen. Eine Fernehe in Briefen. So schreibt Achim von Arnim am 19. September 1820 an Bettina: »Ich denke nirgends an Dich so oft wie hier, wo wir miteinander recht schöne Tage lebten, die Du leider vergessen hast.« Sie schreibt ihm von einem interessanten Abend mit Schlegel, Schinkel, Rauch, Tieck und Varnhagen in Berlin, interessanter gewiss als die Kindstaufe im Dorf, zu der Achim eingeladen war. Der Riss zwischen Großstadt und Land geht mitten durch sie hindurch – und das vor 200 Jahren!
Ist Bettina doch einmal hier draußen, schreibt sie lange Klagebriefe. Die klingen alle wie dieser, den sie ihrer Schwester Gundula von Savigny Neujahr 1823 schickt. Das Schreiben vergehe ihr hier, wo den ganzen Tag, das ganze Jahr, »das ganze liebe lange Leben nichts vorfällt, weswegen man ein Bein oder einen Arm hochheben möchte«. Für ihre Zeitgenossen ist der Fall klar, sie brauchen nur lesen, was beide schreiben. Heine urteilt in seiner »Romantischen Schule« bündig über Achim von Arnim: »Er war kein Dichter des Lebens, sondern des Todes.« Und Théophile Gautier ätzt, dieser kenne nur wie ein Totengräber die Mysterien des Grabes, »und wenn nachts der Mond groß über dem Horizont aufgeht, lässt er, auf einem Grabmal sitzend, mit der Kaltblütigkeit eines Armeegenerals seine schaurigen Gespenster Revue passieren«.
Nachdem Achim 1831 gestorben war, beginnt Bettina aufzuleben. Sie gibt nicht nur Achims Schriften heraus, sondern ediert 1835 »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« und schreibt 1839 »Die Günderrode«. Und auch vor Wiepersdorf hat sie offenbar keine Angst mehr. An dem Ort allein kann ihr Unwohlsein nicht gelegen haben. Wiepersdorf also stilles Refugium oder einsame Verbannung? Dazwischen liegt nicht viel, bis heute.
Fast drei Monate schon bin ich hier als Stipendiat, mit nur kurzen Unterbrechungen durch Fahrten nach Berlin mit einem Rufbus, den man im Voraus bestellen muss (und hofft, dass er verfügbar ist), dann mit der Regionalbahn ab Jüterbog, die fast so häufig ausfällt, wie sie fährt, von pünktlich gar nicht zu reden. 14 Stipendiaten aus aller Welt und aus allen Kunstsparten arbeiten in diesem Jahr hier (von über 800 Bewerbern). Ich vertrete mit einer Biografie über Erik Neutsch die ostdeutsche Geschichte, zusammen mit einem Doktoranden, der über den Philosophen Wolfgang Heise arbeitet.
Schon seit 1947 ist Schloss Wiepersdorf ein Heim für Schriftsteller. Den Heimcharakter hat es bis heute nicht ganz abgelegt. Eines Tages aber die kleine Sensation im täglichen Einerlei: Weiße Tischdecken und Bier um elf Uhr morgens! Das gibt es an diesem eher klösterlich spartanischen Ort sonst nicht, aber jetzt doch für die Handwerker, Bratwurstbudenbetreiber und Imker, die beim alljährlichen Frühlingsfest Ende Mai ihre Stände im Schlosspark aufbauen. Annette Rupp (lange Zeit leitete sie das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles) hat sie zum Vorgespräch eingeladen. Die vom Einbruch der »werktätigen Bevölkerung« irritierten Stipendiaten schleichen wie Schatten an der Salontür vorbei, hinter der es plötzlich laut wie in einer Dorfkneipe dröhnt.
Bin ich zu empfindlich geworden hier, geradezu verweichlicht im Expresstempo? Das eine Dauerthema hier ist das Essen. Drei Mahlzeiten täglich, ohne vorher einkaufen und kochen zu müssen (und hinterher abzuwaschen), machen es unweigerlich zu einer mäkeligen Schlossexistenz. Morgen Abend, sagt der Koch (vormals Adlon Berlin), im Vorbeigehen wie beruhigend zu mir, so, als wolle er eine sich anbahnende Revolte im Keim ersticken, gebe es auch wieder Fleisch. Ich bin hier der einzige Fleischesser unter lauter Vegetariern.
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Das andere Dauerthema sind die Wölfe. Die leben nebenan im Wald. Menschen greifen sie nicht an, aber um die Hühner- und Schafställe sind überall hohe Zäune gebaut worden. Die Märchen werden wahr? 1816 kam Wilhelm Grimm zu Besuch nach Wiepersdorf. Man sagt, dass er hier erstmals vom Rotkäppchen und dem Wolf hörte, was dann zu einem der berühmtesten Märchen seiner Sammlung wurde. Der »Rotkäppchen-Park« ist darum eine Attraktion (die einzige) hier in Wiepersdorf. Man geht eine halbe Stunde immer tiefer in den Wald und steht dann vor den vermuteten Resten des Hauses der Großmutter (samt erklärender Schautafel). Dann die schaurige Nachricht am Abendbrottisch: Direkt neben dieser pittoresken Dorfattraktion liegt das frisch abgenagte Skelett eines Rehs!
Wiepersdorf existiert zwar am Rand der urbanen Welt, aber nicht außerhalb ihrer. Auch Anna Seghers musste das erfahren. Häufig hier zu Gast, hatte sie 1957 im Schloss einen Nervenzusammenbruch. Offiziell hieß es, dass sie überarbeitet gewesen sei. Nimmt man jedoch die Jahreszahl in den Blick, weiß man, was gerade geschah: der Prozess gegen ihren alten Vertrauten, den Cheflektor des Aufbau-Verlages Walter Janka, dem man konterrevolutionäre Aktivitäten vorwarf. In einem Schauprozess wurde er zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Seghers war beim Prozess anwesend, aber schwieg, was ihr Janka nie verzieh. Sie kam nie mehr nach Wiepersdorf.
Maxie Wander trifft 1973 auf einem winterlichen Waldspaziergang rund um Wiepersdorf ein Herzanfall. Sie stürzt bewusstlos in den Schnee und überlebt wie durch ein Wunder: »Ich bewegte mich langsam, ohne zu wissen, wohin und ob ich noch lebendig oder schon tot war. Vielleicht war doch alles ein Traum?«
Ach ja, einen Esel gibt es auch im Dorf, ebenfalls eine Attraktion. Man sagt, Esel würden durch ihre markerschütternden I-A-Rufe die Wölfe vertreiben. Einige der Stipendiaten, die mit melancholischen Zuständen kämpfen, kommen regelmäßig zu ihm, um ihn – und sich – mit der Gabe frischer Gräser zu trösten. Doch wenn sie Ralf, der Eselbesitzer, der im Schloss Gärtner und Haustechniker ist, dabei ertappt, trifft sie ein so wilder Donnerschrei, wie man ihn eigentlich nur Zeus, dessen Skulptur im Schlosspark steht, zutrauen würde.
Schloss Wiepersdorf, Bettina-von-Arnim-Straße 13, 14913 Niederer Fläming; nächste öffentliche Veranstaltung: »Spiel und Spiele«, Vortrag von Dr. Barbara Steingießer, 17. Juli, 18.30 Uhr, www.schloss-wiepersdorf.de
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