Der verweltlichte Pietismus

Die Linke wendet den Selbstoptimierungszwang gegen sich selbst.

  • Michael Ramminger und Julia Lis
  • Lesedauer: 6 Min.

Critical Whiteness, Reflexion des Redeverhaltens, Awareness-Konzepte, die das Verhalten auf Partys wie bei Aktionen penibel regeln, ständige Antisemitismusvorwürfe: Wer linke Diskurse und den Habitus vieler im linken Aktivismus beobachtet, wird schnell bemerken, dass das »richtige« Verhalten und Sprechen, also die Moral, eine ganz zentrale Rolle spielen. Diesem Umstand liegt eine Subjektivierung zugrunde, die die Mechanismen des neoliberalen Kapitalismus auf links gewendet reproduziert, anstatt dieselben radikal in Frage zu stellen.

Der neoliberale Kapitalismus basiert auf drei zentralen Pfeilern: Erstens dem freien Markt, der - so sein Oberapologet F.A. Hayek - »aus Feind Freund machen kann« und größtmöglichen Wohlstand sowie maximale Freiheit garantieren soll. Da ist zweitens das Staatsverständnis der Gewährleistung von Eigentum und Abwehr von Markteingriffen. Der dritte Punkt aber ist eine spezifische Subjektivierungs- und Individualisierungsform, die wir erst langsam verstehen. Sie entwickelte sich im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus oder »Toyotismus«: Die selbstverantwortliche, in ihrer ganzen Subjektivität und Kreativität geforderte Arbeitskraft - egal ob am Band bei Toyota, in der Webdesignagentur oder im Krankenhaus -, stets bereit, alles zu geben und sich darin der Kritik der anderen im Team oder in der Gruppe auszusetzen: Ich, ein Unternehmen meiner selbst, gefangen in der Forderung nach permanenter Kompetenzaneignung, lebenslangem Lernen und Flexibilität im lokalen wie biografischen Sinne.

Die Autoren
Dr. theol. Michael Ramminger, Jahrgang 1960, ist einer der Mitgründer des Instituts für Theologie und Politik in Münster. Dort arbeitet auch Dr. theol. Julia Lis, geboren 1980. Beide interessieren sich für Fragen befreiender Theologie und engagieren sich in politischen Bewegungen.

Versuchsanstalten unserer selbst

Einst, etwa bei Rosa Luxemburg, war Individualität die Freiheit der Einzelnen, eine emanzipatorische Forderung. Heute aber ist sie ein Imperativ der herrschenden Verhältnisse, der einem alles abverlangt. Sie ist die letzte Instanz gelingenden Lebens: Scheiterst du, bist du selbst daran Schuld. Wir sind Versuchsanstalten unserer eigenen Persönlichkeiten, wir schöpfen unsere Freiheit und Autorität aus uns selbst. Diese Selbstermächtigung im neoliberalen Kapitalismus sei, wie Ulrich Beck schon 1997 vor dem Übergang zum rot-grünen Kapitalismus schwärmte, die republikanische Neuerfindung des Europas der Individuen, so der »neue Philosoph« im Sinne Friedrich Nietzsches.

Es hat, Gott sei Dank, nicht allzu lange gedauert, bis sich dieser tragische Optimismus in kapitalistischer Individualisierung erschöpft hatte. Neben rechten Bewegungen, die sich dieser Überforderung allerdings durch neue völkische Homogenisierungen und Rassismen entgegenstellten, hat sich auch die Bewegungslinke in der Bundesrepublik positioniert: Patriarchatskritik, Antirassismus- und Geflüchtetenbewegung ebenso wie »Ende Gelände« sind die Versuche, diesen Verhältnissen etwas entgegenzusetzen. Die Bewegungslinke wehrt sich verzweifelt gegen die katastrophischen Folgen dieses Kapitalismus. Sie übersieht dabei allerdings, wie sie in ihrem Kampf, in ihren Organisationsformen und Maximen die Grundannahme des neoliberal-kapitalistischen Subjekts, des Zwangs zur schöpferischen Selbstoptimierung und Individualisierung undialektisch internalisiert hat. So wendet sie diese gegen sie selbst. Gegen Emanzipation als utopischem Horizont linker Politik.

Das toyotistische Subjekt der Selbstoptimierung erfährt als Figur eines der eigenen moralischen Perfektion verpflichteten Typus des politischen Aktivisten im Kampf gegen Umweltzerstörung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit seine Reinkarnation: in der Verpflichtung auf Selbstoptimierung im Sinne der permanenten Arbeit an der eigenen moralischen Integrität. Linke Politik reduziert sich zunehmend auf Diskursinterventionen und habituelle Veränderungen. Theorien, die gesellschaftliche Strukturen als Teil kapitalistischer Vergesellschaftung durchdringen wollen - wie etwa die Kritische Theorie -, spielen heutzutage an den Unis kaum noch eine Rolle. Sie wurden verdrängt durch eine verkürzte Rezeption des poststrukturalistischen Konstruktivismus, die passenderweise oft als »Dekonstruktivismus« firmiert.

Nachvollziehen lässt sich das besonders an verbreiteten Populärformen des Gender-Diskurses - oft recht frei nach Judith Butler -, am Hype um Critical Whiteness sowie der gängigen Rezeption der Postcolonial Studies. Radikalität im Blick auf Herrschaftskritik muss sich demnach im politisch korrekten Diskussionsverhalten, der Kritik am »white saviorism«, den eigenen Privilegien und so weiter erweisen. Es rächt sich, dass die persönliche Subjektivierung unter kapitalistischen Bedingungen nicht selbstverständlich auch als historischer Prozess einer Vergesellschaftung analysiert wird. Dies gipfelt dann darin, dass sich etwa Ortsgruppen von »Ende Gelände« in ihrer Praxis selbst paralysieren, indem sie in trauriger Selbstreflexion feststellen, dass sie zu wenig »PoC« (People of Colour) in ihren eigenen Reihen haben.

Politik als Entsühnung

Immer weniger geht es also darum, Verhältnisse zu überwinden und diesen Kampf als den der Unvollkommenen zu verstehen. Umgekehrt verkommt linke Politik zu einer Kritik der eigenen, fremden und gesellschaftlichen Unzulänglichkeit, deren letzter Horizont es ist, sich durch moralisch-linke Selbstoptimierung zu entsühnen. Diese Figur kennt man aus der Religionsgeschichte, speziell der Geschichte der protestantischen Kirchen. Die Referenz ist hier der Pietismus des 17. Jahrhunderts. Religiöse Verinnerlichung - »Seelenerforschung« - und moralische, auch nach Außen getragene Perfektionierung standen im Zentrum dieser Glaubensrichtung. Sie sollten durch die starke Binnenorientierung in die geistliche Gemeinschaft, die »ecclesiola«, abgesichert werden. In säkularisierter Form begegnet uns das in der Linken wieder, wenn seitenlange Reflexionsbögen über die eigenen internalisierten rassistischen Strukturen erstellt werden, wenn in Zeiten der Coronapandemie diejenigen gnadenlos denunziert werden, die nicht genug Verantwortung für die eigene und die Gesundheit ihrer Nächsten übernehmen oder wenn Kritische Männlichkeitsgruppen Schuldbekenntnisse ihres falschen männlich-dominanten Verhaltens referieren, um sich als bessere, weil feministischen Männer zu präsentieren. Man kann das einen säkularisierten Pietismus nennen.

Angestrengte Müdigkeit

Immer weniger gelingt diesen Politik- und Lebensformen eine Kritik des gesellschaftlichen Ganzen. Die Aktionen bleiben konzentriert auf die richtigen Forderungen, die man an die Gesellschaft und auch »die Politik«, also die staatlichen Institutionen, heranträgt. Nach innen herrscht derweil ein hoher Druck, eine unbarmherzige Anprangerung aller widersprechenden Verhaltensweisen und Ausdrucksformen bis hin zu Ausschluss und Denunziation. Es entsteht eine Stimmung angstvoller Selbstkontrolle, die Kreativität, Experimentierfreude und Lust am Streiten hemmt. Die individuelle und gemeinschaftliche Bearbeitung der Konflikte, die sich aus der Spannung zwischen dem Anspruch grenzenloser individueller Selbstverwirklichung und dem Zwang ergeben, den eigenen und kollektiven moralischen Anforderungen gerecht zu werden, nimmt viel Raum, Zeit und Energie in Anspruch, die dann in politischen Prozessen fehlen.

Es entsteht ein Typus von Linksbewegten, der immer müde und angestrengt wirkt, gerade weil er stets bemüht ist, freundlich-zurückhaltend zu kommunizieren und die Einhaltung der sich selbst auferlegten Regeln nach innen hin durch den Aufbau von moralischem Druck durchzusetzen. Auf diesen Typus trifft viel von dem zu, was Nietzsche einst als Kritik an der Moral des protestantisch-bürgerlichen Milieus formulierte: »Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!?«

Nietzsches Kritik an einer »Sklavenmoral«, die eigene Schwäche und Unterlegenheit durch moralische Überlegenheitsansprüche zu kompensieren sucht und damit zu einer Tugend erhebt, sollte sich die heutige Linke hinter die Ohren schreiben. Erst dann wäre sie vielleicht fähig, sich aus der Gefangenschaft eines solch säkularisierten Pietismus zu befreien. Ihr täte etwas mehr Nietzsche gut. Allein schon, um die Frage wachzurufen, wie wir uns kollektiv und lustvoll zu einem Leben, einem Begehren befreien können, das uns die verkehrten, entfremdeten Verhältnisse endlich bekämpfen und überwinden lässt, nicht uns selbst. Das wäre dann vielleicht wirklich die geglückte, linke Umkehrung jener Figur des »neuen Philosophen«, die Ulrich Beck in Verteidigung neoliberaler Fremd- und Selbstausbeutung mit Nietzsche aufgerufen hatte.

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