Der demokratische Wandel bleibt aus

Angesichts erneut aufkeimender Proteste strebt Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune Neuwahlen an

  • Claudia Altmann, Algier
  • Lesedauer: 4 Min.

Algerien hat seinen Präsidenten wieder. Fast drei Monate lang hatte sich Abdelmadjid Tebboune in die Obhut deutscher Ärzte begeben, die ihn von seiner Covid-Erkrankung und deren Folgen geheilt haben. Kaum wieder im Lande, verkündete das Staatsoberhaupt am Donnerstag in einer vom staatlichen Rundfunk ausgestrahlten Rede eine Reihe von Maßnahmen, die zumindest aufhorchen lassen. Dies umso mehr, als sie mit dem zweiten Jahrestag des Ausbruchs der Protestbewegung Hirak zusammenfallen. Die Massenproteste hatten ein Jahr lang das verkrustete politische System des nordafrikanischen Landes erschüttert und zum Sturz des unpopulär gewordenen Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika geführt. Im März 2020 waren sie wegen der Pandemie zum Stillstand gekommen, ohne dass die Hauptforderungen nach einem radikalen Systemwechsel, politischer Öffnung und Rechtsstaatlichkeit erfüllt worden waren. Stattdessen wurden landesweit Aktivist*innen der friedlichen Protestbewegung verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

Tebboune verfügte nun die Freilassung von mehr als 30 Verurteilten und weiteren etwa 60 Inhaftierten, die seit Monaten auf einen Prozess warten. Unter den bisher Freigelassenen ist auch der Journalist Khaled Drareni. Der 42-Jährige war wegen »Anstiftung zu unbewaffneter Massenansammlung« sowie »Angriffs auf die nationale Einheit« zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Sein Fall hatte landesweit für Empörung gesorgt und internationalen Protest ausgelöst. Für die Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte sind die Begnadigungen durchaus Anlass zur Freude. Im Grunde aber sei es die Wiedergutmachung der ungerechten willkürlichen Inhaftierungen.

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Liga-Vizepräsident Said Salhi geht in einer in sozialen Netzwerken veröffentlichten Stellungnahme noch weiter: »Wir erwarten konkretere Schritte in Richtung individueller Freiheiten, Anerkennung der Menschenrechte sowie demokratischer, politischer und medialer Öffnung.« Zugleich erneuerte er die Forderung des Hirak nach »friedlicher Veränderung durch einen echten demokratischen Prozess und politischen Dialog«.

Auch nach Ansicht der im »Bündnis für eine demokratische Alternative« zusammengeschlossenen Parteien, Vereine und Organisationen bleibt ein radikaler demokratischer Wandel bisher aus. Sie reagierten damit auf die vom Staatschef beschlossene Auflösung des Parlamentes und die Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen. »Die derzeitige Führung will damit ihre Agenda zur Festigung des autoritären Systems durchsetzen und plant erneut einen in Wahlen verpackten Gewaltstreich«, warnt das Bündnis. Auch wenn es nur einen Teil der heterogenen Protestbewegung repräsentiert, so drückt es doch das tiefe Misstrauen eines Großteils der Bevölkerung gegenüber den bisherigen Praktiken der Machthaber aus.

Dies hatte sich in den geringen Wahlbeteiligungen sowohl bei der Präsidentenwahl im Dezember 2019 als auch beim Verfassungsreferendum Ende vergangenen Jahres manifestiert, als mehr als drei Viertel der Stimmberechtigten dem Votum ferngeblieben waren. Einen Dialog mit Vertretern des Hirak lehnt die Führung bisher ab. Stattdessen hat Tebboune noch vor seiner Rede Vertreter systemtragender politischer Parteien empfangen, deren Einfluss in der Bevölkerung allerdings immer mehr schwindet.

Dabei braucht das Land mehr denn je politische Stabilität, um die ökonomische und soziale Krise, die sich durch die Pandemie noch verschlimmert hat, in den Griff zu bekommen. Wirtschaftsexperten sprechen von einer »katastrophalen Bilanz« für das zurückliegende Jahr und sagen für die kommenden Monate einen Anstieg der Arbeitslosenrate auf 15 Prozent voraus. Die Bevölkerung bekommt die Folgen unter anderem durch Preissteigerungen für Lebensmittel, ausbleibende Lohnzahlungen und Entlassungen zu spüren. Kein Wunder also, dass es landesweit verstärkt zu sozialen Protesten kommt. Vor diesem Hintergrund entschied Staatschef Tebboune, mehrere Minister, »die ihre Arbeit nicht im Dienste der Bevölkerung gemacht haben«, des Amtes zu entheben. Den für die Regierungsumbildung angekündigten Termin vom vergangenen Sonnabend hielt er jedoch nicht ein.

Am zweiten Jahrestag des Hirak am Montag werden landesweit Demonstrationen erwartet. Einen Vorgeschmack gaben am Dienstag Tausende Protestierende in der nordalgerischen Stadt Kherrata, wo vor zwei Jahren die Menschen erstmals gegen den damaligen Präsidenten Bouteflika auf die Straße gegangen waren. In der Hauptstadt Algier und dessen Umgebung ist schon seit mehreren Tagen ein massives Polizeiaufgebot zusammengezogen, ein Repressionsszenario, das so gar nicht zu der auf Besänftigung abzielende Rede von Staatschef Tebboune passt.

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