Nicht wegschauen

Linda Hentschel untersucht die Politik von Bildern der Gewalt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 3 Min.

Als im vergangenen Jahr George Floyd in Minneapolis starb, nachdem ein Polizist mehrere Minuten auf seinem Hals kniete und ihm so die Luft abdrückte, wurde die Tat innerhalb weniger Stunden - eine Passantin hatte sie gefilmt - einer großen Öffentlichkeit sichtbar. Es waren nicht zuletzt diese Bilder, die die weltweite Protestwelle der »Black Lives Matter«-Bewegung auslösten. Und dass sie Teil des Widerstands gegen Rassismus geworden sind, wendet sich auch gegen eine unselige Tradition in der USA, in der die fotografische Dokumentation von Gewalt gegen Schwarze untrennbar mit der Vormachtstellung der Weißen verbunden ist - es war also auch eine Intervention gegen die mediale Politik der Bilder. Wie die Visualisierung von Terror, Folter und Lynchmorden das westliche Selbstverständnis prägen, hat die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Linda Hentschel untersucht. Die beiden Bände »Schauen und Strafen. Nach 9/11« und »Schauen und Strafen. Gegen Lynchen« sind nun im Kadmos-Verlag erschienen.

Ein Betrachtungsverbot lehnt die Autorin ab, die Bücher sind reich bebildert. Sie plädiert für ein verantwortungsvolles Schauen, dass die Fotografien nach ihren Kontexten befragt. Wer ist sichtbar? Wer bleibt außerhalb des Bildausschnitts? Welche Fotos werden in der Presse abgedruckt und welche liegen vor, bleiben aber unbeachtet? Anhand des Folterskandals in dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib von 2004 und anderen Bildern, die den »Krieg gegen den Terror« begleiteten, analysiert sie im ersten Band die Konstruktion des Anderen im Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Dass in der medialen Rezeption einige der Darstellungen von Gewalt ikonisch wurden und andere schnell aus dem medialen Umlauf verschwanden, sei Hentschel zufolge kein Zufall, sondern eine Immunisierungsstrategie der USA. »A few bad apples«, also ein paar faule Äpfel wurden als folternde Schurk*innen inszeniert. Dafür verschwand die strukturelle Ebene der Taten.

Die als Trophäen getauschten Aufnahmen von Abu Ghraib sind ein Echo der Lynchfotografien, die als Souvenirs und Postkarten von der kollektiven Ermordung schwarzer Menschen zeugten. Im zweiten Band untersucht Hentschel den kulturellen Rahmen von Lynchmorden und wie sich die Rezeption rassistischer Gewalt durch ein Publikum von Weißen in den USA veränderte. Bis in die 1930er Jahre wurde die rassistische Selbstjustiz nicht staatlich geahndet. Tausende strömten in einer volksfestartigen Stimmung zusammen und feuerten mit Popcorn in der Hand die Ermordung Schwarzer an. Die Autorin beschreibt, dass sich der entmenschlichende Blick mit dem Aufkommen des Melodramas in weißes Mitleid wandelte, das weiterhin mit einer Abwertung schwarzen Lebens einherging.

Hentschels Analyse der Bilder macht die geschichtlichen Kontexte und ihre kulturelle Einbettung sichtbar. Sehr genau vollzieht sie die Diskussionen nach, die sich im Spannungsfeld des Zeigens oder Nicht-Zeigens abspielten, und eröffnet eine Reihe philosophischer Anknüpfungspunkte zur Konstruktion des Eigenen und Anderen in der Darstellung von Gewalt. Am Ende beider Arbeiten schlägt sie den Modus des verantwortungsvollen Schauens vor. Sowohl Scham, die ausgehend von Judith Butler die gegenseitige Abhängigkeit des Lebens erfahrbar machen soll, und Melancholie als Freud’sche Kategorie des Selbstverlusts beschreiben einen passiven Bezug auf die Bilder beim Betrachten.

Im Falle George Floyds tut sich eine dritte Möglichkeit auf, die weit über die von Hentschel skizzierten Potenziale hinausgeht. Hier initiierte der Blick auf das Video mobilisierende Wut, die den einzelnen Fall als Kontinuität der Gewalt erkannte. Darstellungen von Terror, Misshandlung und Mord und ihre Kontexte sollten nicht nur gezeigt werden, um die eigene voyeuristische Position zu reflektieren. Empörung kann in politische Handlung umschlagen, die sich gegen die Gewalt hinter der Abbildung richtet. Sich den Bildern zu entziehen - und das betont auch Hentschel - wäre naiv, denn die Gewalt existiert auch ohne unseren Blick fort.

Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Nach 9/11. Band 1. 256 S. br. 19,90 €

Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Gegen Lynchen. Band 2. 192 S., br. 19,90 €

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