Ein Mädchen wird Dichter

»Aber für mich ist das Leben nur ein Genuss, wenn ich schreiben kann« - erstmals liegt Tove Ditlevsens »Kopenhagen-Trilogie« vollständig in deutscher Übersetzung vor

  • Isabella A. Caldart
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie war ihrer Zeit voraus: Jahrzehnte vor Rachel Cusk und Annie Ernaux (und vielen zeitgenössischen männlichen Autoren) schrieb die dänische Schriftstellerin und Lyrikerin Tove Ditlevsen (1917-1976) in autofiktionaler Weise über ihr Leben. »Kindheit« und »Jugend«, die ersten Teile ihrer »Kopenhagen-Trilogie«, erschienen 1967, »Abhängigkeit« folgte 1971; jetzt sind erstmals alle drei Bände, übersetzt von Ursel Allenstein, auf Deutsch veröffentlicht. Obwohl Tove Ditlevsen zu den wichtigsten Autor*innen ihres Heimatlandes gehört, musste ihr Werk, wie schon das Elena Ferrantes, erst den Umweg über die Übersetzung ins Englische nehmen, um hierzulande entdeckt zu werden. (2019 wurden die Bücher in Taschenbuchausgaben einzeln publiziert, Anfang dieses Jahres folgte die Trilogie als Hardcover; in Deutschland entschied der Aufbau-Verlag jedoch, die drei dünnen Büchlein von 120 bis 175 Seiten gebunden einzeln herauszugeben.)

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Tove Ditlevsen: Kindheit/Jugend/Abhängigkeit.
A. d. Dän. v. Ursel Allenstein. Aufbau, geb., jeweils 18 €. •

Dass Tove Ditlevsens Werk zwar autobiografisch ist, aber trotzdem fiktionalisierend verfremdet, zeigt sich bereits zu Beginn des erstens Bands, in dem sie, die 1917 geboren wurde, dies um ein Jahr auf 1918 verschiebt, um die Geburt ihres älteren Bruders und ihre eigene mit Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs einzurahmen. »Kindheit« erzählt vom Aufwachsen Ditlevsens in Vesterbro, einem Arbeiterviertel Kopenhagens. Geprägt wird ihre Kindheit von der lieblosen Ehe ihrer Eltern, der Arbeitslosigkeit des Vaters, von Alkoholismus und Gewalt in der Nachbarschaft, von Mädchen in ihrem Umfeld, die zu früh schwanger werden (und der Angst der Mutter, Tove könnte dieses Schicksal ereilen), sowie von einem Halbhunger, bei dem die Familie zwar nie einen richtig leeren Magen hat, aber wiederholt »tagelang von Kaffee und altem Gebäck« lebt.

Tove ist ein außergewöhnliches Kind, das aus der Vesterbroer Tristesse heraussticht, was sich schon früh zeigt - sehr zur Scham ihrer Mutter, die versucht, sich so unauffällig wie möglich ins gesellschaftliche Gefüge einzupassen. Als ihr Kind, das sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hat, eingeschult wird, empfängt man Mutter und Tochter an der Schule mit den Worten, diese Vorkenntnisse seien ungünstig, »denn wir haben natürlich unsere eigenen Methoden, es den Kindern beizubringen«. Die Mutter rückt daraufhin von Tove ab, was den ersten Bruch in der schwierigen Beziehung der beiden markiert: In diesem Moment »wird mein Herz von jenem Chaos aus Zorn, Trauer und Mitleid erfüllt, das meine Mutter seit dieser Stunde und für den Rest des Lebens immer in mir wecken wird«.

Schule bedeutet nur einen halben Ausweg aus Vesterbro für Tove. Die Sekundarschule erweitert ihre Welt, wie sie es formuliert, doch mit 14 muss sie abgehen und arbeiten. Wie ihre Mutter empfindet auch sie Scham, allerdings ob ihrer Herkunft und ihres Mangels an Bildung, den sie - in ihren Augen - nie ganz beheben kann. Dabei hat Tove Ditlevsen schon als kleines Kind nur einen einzigen Wunsch: Sie möchte schreiben, und natürlich möchte sie auch davon leben können. Die Eltern wissen nichts mit diesem Wunsch anzufangen. Ihre Mutter liest nicht, schließlich stünden in Büchern nur »Lügen«; der Vater liest zwar umso mehr, antwortet aber auf den fröhlich geäußerten Wunsch seiner Tochter, sie wolle »auch Dichter werden«, mit Stirnrunzeln: »Ein Mädchen kann nicht Dichter werden.« Gerade durch den ersten Teil der Trilogie wird sich dieser Satz wie ein Echo ziehen.

Getrieben von dem Drang zu schreiben (ihre Gedichte »dämpfen die Trauer und Sehnsucht in meinem Herzen«), lernt Tove - kaum ist sie der verhassten Kindheit entwachsen, die sie als »Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann«, bezeichnet - den Herausgeber eines Magazins kennen, der ihr erstes Gedicht veröffentlichen wird. »Er möchte mein Gedicht in seiner Zeitschrift drucken. Er ist der Mensch, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe«, sagt sie über diesen bedeutend älteren Mann, den sie später heiratet. Sie empfindet für ihn zunächst eine Art der Liebe, da sie in ihm eine gleichgesinnte Person erkennt, wie sie ihnen in Vesterbro nicht begegnet war, die jedoch schnell in Pragmatismus umschlägt - denn die junge Frau weiß, dass seine Beziehungen in die literarische Welt ihre Rettung bedeuten können.

Am Ende des zweiten Buches überfällt Nazideutschland Polen, während Tove Ditlevsen privat ihren bis dato größten Erfolg verbucht: Ihr erster Lyrikband ist veröffentlicht, zwar nur in einer Auflage von 500 Exemplaren, aber »ich bin nicht dieselbe wie vorher. Mein Name wurde gedruckt. Ich bin nicht mehr anonym.«

Während »Kindheit« und »Jugend« ihre schrittweise Befreiung aus den ärmlichen Verhältnissen bedeuten, gerät Tove Ditlevsen in »Abhängigkeit« - der dänische Titel »Gift« lässt sich nicht nur mit »Gift«, sondern auch mit »verheiratet« übersetzen - in einen Abwärtsstrudel aus lieblosen Ehen und Schmerzmitteln. Als Tove, inzwischen etablierte Lyrikerin in Dänemark, einen Arzt kennenlernt, der ihr regelmäßig Pethidin spritzt, eine opioidhaltige Arznei, weil er »passive Frauen« mag, verlässt sie ihren zweiten Mann. Immer mehr hat ihre Sucht sie im Griff - sie ist bereit, das Kind des Arztes zu adoptieren, um ihn stärker an sich zu binden, und eine gefährliche Operation am Ohr einzugehen, damit die Versorgung mit Pethidin niemals abbricht. Ungeschönt beschreibt die Autorin die vielen Jahre mit den Drogen, den Aufenthalt in einer Entzugsklinik und die Unmöglichkeit, ihre Sucht jemals völlig hinter sich zu lassen.

Tove Ditlevsens Prosa ist sprachlich präzise, mitunter ironisch und immer gefühlvoll, läuft dabei jedoch niemals Gefahr, ins Sentimentale abzurutschen. Statt wie Knausgård und seinesgleichen jedes Detail ihres Lebens auszuerzählen, macht Ditlevsen Sprünge in ihrer Geschichte, die sich aber nie wie Leerstellen anfühlen. Sie bleibt sehr nah bei ihrem Alter Ego, ohne auf der Metaebene die einordnende Stimme einer distanzierten, gereiften Erzählerin einzunehmen; nur in seltenen Momenten erfahren die Leser*innen Details, die über die Perspektive der Protagonistin hinausgehen. Etwa wenn sie, noch bevor sie sich von ihrem zweiten Mann trennt, verrät, dass er zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits verstorben ist.

Ihre Fehler sind bei Ditlevsen keine kleinen Fehltritte auf dem Weg zu einer höheren Erkenntnis, sondern nüchtern und sachlich erzählt. Sie schreibt radikal offen, ohne sich selbst in ein positives Licht zu rücken, über ihre Herkunft und Sehnsüchte, über illegale Abtreibungen, ihren Kampf mit den eigenen Dämonen und die Selbstbestimmung als Frau in der dänischen Gesellschaft der 30er und 40er Jahre. Die »Kopenhagen-Trilogie« ist ein außerordentliches Werk. Was für ein Glück, dass wir diese Autorin jetzt endlich, 45 Jahre nach ihrem Tod, entdecken.

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