»Ich war eine Internet-Pionierin«

Jana Reich gründete das Online-Portal »Frauennews« und den feministischen Verlag Marta Press. Frauen findet sie viel spannender als Männer.

  • Leonie Ruhland
  • Lesedauer: 10 Min.

Frau Reich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Sie sind Bibliothekarin, Verlegerin, und Sie haben ein Forschungsnetzwerk mitgegründet. Was kam zuerst?

Ich bin seit 21 Jahren hier im Zentrum für Gender und Diversity - früher noch die Koordinationsstelle für Frauenstudien und Frauenforschung. In den 90ern hatte ich das Glück, einen der Frauenstudiengänge zu belegen, die damals in Hamburg angeboten wurden. Von Semester zu Semester hatte ich Angst, dass dieser Studiengang abgeschafft wird. Die Koordinationsstelle mit ihrer Bibliothek war für mich das Heiligtum in der Stadt.

Im Interview

Neben ihrer Stelle als Bibliotheksleiterin im Zentrum für Gender und Diversity in Hamburg gründete Jana Reich 2013 den feministischen Verlag Marta Press. Erfahrung damit hatte sie nicht. Aber eine von spontaner Eigeninitiative geprägte Biografie. Im Interview spricht sie über Männerdominanz, rechtsextreme Frauen und ihre Borderline-Mutter.

Ihre feministische Berufslaufbahn begann also mit dem Frauenstudium Hamburg?

Ja, das war toll. Eigentlich war es der totale Rückschritt für mich, hier im Westen, nach der Wende. Ich kannte nur das DDR-System - da waren wir ja alle berufstätig: Ich habe mehr verdient als mein Vater, vorher hatte ich ein technisches Ingenieursstudium absolviert, das zum Großteil mit Frauen belegt war. Als wir hier rüberkamen, hatte ich das Gefühl, ich hätte eine Zeitreise gemacht. Ich brauchte zwei bis drei Jahre, um diesen Wechsel zu verkraften. Dafür gab es hier eine gute Frauenszene. Frauenkneipen und Frauencafés und einen feministischen Diskurs, den ich aus dem Osten nicht kannte. Im Westen hatten viele Frauen Angst vorm Campus, die sie durch den Frauenstudiengang überwinden konnten. Diese ganze Campus-Sprache, diese Abkürzungen und diese Welt, die ja doch erst mal eine eigene ist. Nach dem Frauenstudium haben sich einige mit 40 oder 50 Jahren noch mal in andere Studiengänge eingeschrieben, weil sie so inspiriert und einfach Feuer und Flamme waren. Ich war damals mit Ende 20 die Jüngste, das Alter der Teilnehmerinnen ging bis über 60 hoch.

Und weil es Ihnen so gut gefallen hat, sind Sie einfach dortgeblieben.

Als mein Studium zu Ende war, wurde in der Koordinationsstelle ein Job als Büroaushilfe ausgeschrieben. Ich hatte mich durch das Studium so verändert, dass ich nicht mehr in die freie Wirtschaft zurückwollte. Ich hatte vorher im Bereich Marketing gearbeitet. Die Stelle war schlecht bezahlt, noch unter dem Hausmeistergehalt. Aber ein feministischer Frauenort im öffentlichen Dienst und Uni, das war für mich der Himmel.

Der Feminismus blühte in Hamburg. Trotzdem wurde der Studiengang 2009 eingestellt.

Ja, die Blütezeit der Gender- und Queerstudies oder der Frauenstudien hier in Hamburg ist vorbei. Es werden einem viele Steine von oben in den Weg gelegt, auch wenn in den großen Reden immer anderes behauptet wird. Politisch ist solche Forschung nicht gewollt, und die Akzeptanz an der Universität ist kaum vorhanden, demnach gibt es wenig Finanzierung.

Es war eine richtig tolle Zeit, als Hamburg Vorreiter war. Dass wir so zurückgefallen sind, ist doch schlimm! Wir haben kürzlich einen Band über die Geschichte von Frauen an der Universität veröffentlicht; da konnte man sehen, was wir hier alles schon hatten, was schon mal da war. Das tat richtig weh.

Können Sie Sich daran erinnern, wann für Sie der Punkt kam, an dem Sie sich als Feministin definiert haben?

Zur Wende war ich etwa 20 Jahre alt. Vorher war es sehr schwierig, an Literatur zu kommen. Ich hatte ein Zuhause mit einem sehr gewalttätigen Elternteil. Es gab vielleicht vier Bücher bei uns: das Kochbuch, die Bibel und zwei DDR-Bücher. Meine Eltern hatten für Literatur kein Verständnis. Wenn ich Bücher gekauft habe, musste ich die bei meiner Freundin zwischenlagern, in mein Zimmer schmuggeln und unter der Bettdecke lesen.

Nach der Wende und den - für mich - plötzlich gefüllten Buchläden begann ich feministische Literatur zu lesen, meistens US-Autorinnen. Betty Friedan und Marilyn French zum Beispiel, die kennt man heute vermutlich nicht mehr. Ich war auch mit dabei, als in Hamburg Anfang der 90er die Feministische Partei gegründet wurde. Das war ein tolles Pionierinnen-Gefühl, neue Strukturen zu schaffen, die in der Politik wirklich etwas verändern könnten.

Was bedeutet für Sie Feminismus?

Erst mal finde ich Frauen generell spannender. Die Dominanz der Männer geht mir total auf den Keks. Ich denke, dass Frauenleben und -denken sichtbarer gemacht werden sollten, dass Frauen überall paritätisch beteiligt werden müssen. Dass überhaupt darüber diskutiert werden muss, finde ich schlimm genug. Als das Lesen der damaligen Autorinnen mir diese neuen Sichtweisen eröffnete, war es, als würde ich in eine Parallelwelt steigen. Alles in den Massenmedien ist männlich dominiert, und du musst es dir erst mal feministisch übersetzen. Alle Sachen aus der Richtung zu beleuchten, was sie für Frauen bedeuten - das ist spannend.

Diese Perspektive nimmt auch das Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus ein, das Sie mitgegründet haben. Wie kam es dazu?

Ich hatte eine feministische Internet-Zeitung rausgegeben, die hieß »Frauennews«. Damals war ich eine Internet-Pionierin, wenn man so will. Als Reaktion habe ich Post von Nazis bekommen - sinngemäß: Wir wissen genau, was du machst, wir haben dich im Blick. Das wirkte schon sehr bedrohlich. Zumal ich Kinder hatte und mein damaliger Mann Migrant war, also einen auffälligen Namen hatte. Das war der Auslöser, mich mit Rechtsextremismus zu befassen. Und da fand ich die Frauen viel spannender. Über die Männer wurde ja ständig publiziert. In diesem Zusammenhang gab es eine Tagung in Rostock, bei der wir dieses bundesweite Forschungsnetzwerk gegründet haben.

Und wurden Sie auch mal von Nazis angegriffen?

Einmal hat der Ehemann von einer Freundin, ein Polizist und Sympathisant der NPD, NPD-Sticker auf mein Auto geklebt. Sonst ist zum Glück nichts passiert, aber es war schon eine erschreckende Zeit, mit den Anschlägen in Mölln und Lübeck.

Von 2013 bis 2017 stand Beate Zschäpe in München vor Gericht, Mitglied des Kerntrios des rechtsextremen NSU. Ihr Forschungsnetzwerk hat den Umgang mit Zschäpe kritisiert als »Reproduktion geschlechterstereotyper Klischees, die sie entweder als unschuldiges Opfer oder abnormalen ›Teufel‹ zeigen«. Können Sie mir das näher erklären?

Die Verteidiger haben sie als unbedarfte Mitläuferin dargestellt. Sie behaupteten, dass sie nur beziehungsmäßig verstrickt oder alkoholabhängig gewesen sei und gar nichts mitbekommen habe. Das stimmt ja alles nicht. Sie hat sich mit verschanzt, alles mitgetragen und ist den Weg in die Illegalität bewusst gegangen. Und sie hatte ein sehr großes Netzwerk, in dem der Frauenanteil nicht gering war. Frauen, die ihr Papiere, Kleidung oder eine Wohnung besorgt haben und für sie einkaufen waren. Das wurde in dem Verfahren gar nicht weiter thematisiert. Und Medien berichteten ständig darüber, welche Kleidung oder wie sie ihre Haare trug. Was hat das denn mit den Morden zu tun? Das war eine Verteidigungsstrategie.

Die Rolle der Frau wird im rechtsextremen Umfeld unterschätzt. Ich denke, dass Frauen viel zur Stabilisierung im Rechtsextremismus beitragen. Sie haben soziale Kontakte, unterwandern Schulen und kleine Vereine mit ihrer Volkstümlichkeit. Dabei machen sie auf nette Nachbarinnen, sodass niemand glaubt, dass sie im Ring Nationaler Frauen aktiv sind. Sie werden nicht richtig wahr- und ernst genommen, was sie nutzen, um ihre Propaganda teilweise sehr geschickt zu verbreiten. Andererseits denke ich, dass auch sie durch ihre männlichen Mitstreiter behindert werden. Sie könnten eigentlich viel mehr machen und auch Ämter ausüben, aber wenn sie kandidiert und einen Platz ergattert haben, werden sie oft überredet, den Platz an einen Mann abzugeben. Da erleben sie diese behindernden patriarchalen Strukturen vermutlich noch viel mehr als in anderen Parteien. Das wäre die spannende Frage: Was wäre, wenn sie da mehr tun könnten?

Sie haben vorhin von Ihren »Frauennews« erzählt, für die Sie 2001 den Alternativen Medienpreis gewonnen haben. Wie sahen die aus?

Damals war das Internet neu, und es gab kein Portal von Frauen für Frauen. Ich hatte ein Abo bei Nachrichtenagenturen und konnte sehen, welche Themen über Frauen reinkamen, worüber aber überhaupt nicht berichtet wurde. Die Agenturtexte habe ich umgeschrieben, denn die Berichte aus Männersicht waren schlimm. Fast täglich konnten Leute auf meiner Seite kurzweilige, tagesaktuelle Sachen ebenso wie ausführliche Berichte lesen. Das hat Spaß gemacht, ging aber auch ordentlich ins Geld. Ich musste viel recherchieren und ein Archiv aufbauen. Gesponsert wurde ich nicht.

Nach dem, was ich gelesen habe, dachten Sie sich auch bei der Gründung Ihres Verlags: Dann mach ich’s einfach selbst. Erzählen Sie bitte davon.

Irgendwann habe ich begonnen, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich glaube an das geschriebene Wort, weil sich darüber überprüfen lässt, ob die Erinnerung mit der Realität übereinstimmt. Außerdem mag ich es, das Beste aus allem zu machen, auch wenn was Schlimmes passiert. Das Ergebnis dieser Aufarbeitung war also ein Buch mit über 30 Frauenbiografien.

Sie reden von Ihrem Band über die Kinder von Borderline-Müttern.

Genau. Damit habe ich mich an einen renommierten Verlag gewandt, der aber die Bedingung stellte, dass alle Geschichten gut enden müssten. Aber wir können Geschichte nicht umschreiben. Also dachte ich, geben wir das halt selbst heraus. Das Buch beinhaltet die Geschichten von über 30 Frauen zwischen 18 und 65, die alle Traumatisches erlebt hatten. Je älter deren Borderline-Mütter waren, umso mehr traumatisiert waren die Töchter. Das zieht sich über die Generationen, und das wollte ich festhalten. Es geht also um die transgenerationale Weitergabe von Traumata.

Und Ihre persönliche Vergangenheit.

Meine Mutter wurde 1940 geboren und hat die ersten sechs, sieben Jahre eine Traumatisierung nach der anderen erlebt. Ihre Familie, eine einfache Bauernfamilie aus dem heutigen Polen, waren Vertriebene. Sie erlebte viel Gewalt und ein ständiges Alles-Verlieren, Überall-vertrieben-Werden, Alles-neu-aufbauen-Müssen. Sie hatte erlebt, wie ihr Bruder und ihre Nachbarn erschossen wurden. Sexuelle Gewalt ist immer noch ein Tabu in dieser Familie. Ihre Geschwister, die überlebt hatten, waren schwer traumatisiert. Und das wurde nicht bearbeitet. Gerade in der DDR, wo nur mit Psychopharmaka behandelt wurde und es weder Gesprächstherapien noch gesellschaftliche Aufarbeitung gab. Man war ja ein antifaschistischer Staat. Und ja: Meine Mutter hat eine schwere Borderline-Störung, das war der Anlass für dieses Buch.

Marta Press ist als »nachhaltiger Buchverlag« beschrieben und verlegt insbesondere Literatur zu Diskriminierungen und Feminismus. Warum dieser Fokus?

Weil ich mich da auskenne. Natürlich ist der Nationalsozialismus Thema. Auch Rechtsextremismus und feministische Sachen müssen logischerweise dabei sein. Jetzt gerade haben wir ein Angebot für Kinderbücher mit inklusiven Themen, die von jungen Menschen mit und ohne Behinderung geschrieben wurden. Das wird eine neue Reihe mit dem Titel »Alle dabei«. Da freue ich mich total drauf.

Kinderbücher für die Repräsentation feministischer Denkweisen.

Auch Feministinnen werden Mütter. Es gab zwar damals schon feministische Kinderliteratur, aber jetzt ist sie vielfältiger geworden. Wir haben ein Buch über eine lesbische Prinzessin, zwei Bücher, in denen das Geschlecht der Hauptperson keine Rolle spielt. Das Buch »Sam besucht Oma und Omi in Großbritannien«, eins über intergeschlechtliche Kinder mit anschließendem Beratungsteil. Und eins handelt von Jungs, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Wir haben auch das erste deutsche Corona-Kinderbuch auf den Markt gebracht.

Gibt es spezielle Auswahlkriterien für Autor*innen, die bei Ihnen publizieren möchten?

Wir müssen leider viel absagen, dann empfehle ich weiter. Meistens entscheide ich danach: Will ich meine Lebenszeit mit dem Verarbeiten und Herausgeben dieses Buches verbringen? Will ich abends lange an diesem Stoff sitzen - ist der Text so gut? Kann ich mit der Autor*in zusammenarbeiten? Es geht auch einfach danach, wofür das Herz schlägt.

Der Verlag wurde schließlich Ihr Herzensprojekt.

Ich arbeite eigentlich zu viel für den Verlag. Aber ich liebe einfach diese Bücher - ich möchte, dass sie in der Welt sind. An manchen verdienen wir auch gar kein Geld; aber wenn ich das Buch dann im Laden sehe, freu ich mich tierisch.

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