»Ich tat, was ich konnte«

Er wusste es schon 1914 besser und wird immer noch beleidigt: Zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Er war 39 Jahre alt, als er 1910 in einer kurzen Notiz sein bisheriges Leben bilanzierte. Hinter ihm lag ein Weg, der, »durch sechs Romane hindurch, von der Behauptung des Individualismus zur Verehrung der Demokratie geführt hat«. Kurz darauf verfasste Heinrich Mann seinen Essay »Geist und Tat« mit dem damals unerhörten Frankreich-Lob und der gnadenlosen Deutschland-Kritik.

Französische Autoren wie Rousseau oder Zola hatten es leicht, der bestehenden Macht entgegenzutreten, fand Mann. Sie hatten unübersehbaren Einfluss auf die Gesellschaft. In Deutschland, dagegen, schrieb er, hätte man es mit einem Volk zu tun, »das leben will, nichts weiter (...) und im Land herrscht Gottes Gnade und die Faust. Wozu etwas ändern. Was anderswo geschaffen, hat man in Theorien schon überholt.«

Für Franz Pfemfert, Herausgeber der Zeitschrift »Aktion«, war der Essay »ein radikales, mutiges, funkelndes Manifest«, der Einbruch der Literatur in die Politik: »Uns fehlt in der Politik Heinrich Mann. Er, der große Künstler, könnte der politische Erwecker sein. Denn er besitzt die Elastizität des Geistes, das klare, schonungslose Wort, das mitreißen und umstürzen kann.« Begeistert lasen den Essay auch andere, die Jungen vor allem, die rebellischen Expressionisten. Hier war einer, der dem aufsässigen Literatengeist das Wort redete. Der sie bestärkte. Dem sie folgen konnten. Sie erhoben den Text zu ihrem Programm.

Etwas später, im November 1911, saß Heinrich Mann auf der Zuschauertribüne des Reichstags. In seinem Kopf formte sich langsam sein Roman »Der Untertan«. Er hoffte, im Parlament für die Geschichte des Diederich Heßling Anschauungsmaterial zu finden. Die Debatte drehte sich wieder einmal um die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Was er sah und hörte, trieb ihm den Zorn in die Feder. Er blickte ins »Gesicht von engstirniger Bestialität, zwinkernder Frechheit, stierer Verachtung aller Menschlichkeit, alles besseren Wollens, aller Hoffnungen auf später«. Und erlebte die »Instinktverlassenheit dieses Bürgertums, die furchteinflößende Autorität«, die sich strotzend im Saal breitmachte, und Leute, die nicht merkten, »dass an ihnen das Land zugrunde geht«. Heinrich Mann schrieb für die Zeitschrift »PAN« einen Bericht. Kurt Tucholsky nannte ihn, als der Aufsatz 1920 im Band »Macht und Mensch« noch einmal erschien, »wohl das Vollendetste, was in den letzten Jahrzehnten überhaupt über die deutsche Politik geschrieben worden ist«. Er zitiere ihn immer wieder, »und er stimmt immer«.

Heinrich Mann, geboren am 27. März 1871, als ältestes von fünf Kindern eines Lübecker Senators, war ein Literat, der sich anfangs, als junger Mann, in nichts vom intellektuellen Gros seiner Generation unterschied, die auf Bismarck und Wilhelm II. setzte, der sogar ein antisemitisches Blatt redigiert hatte, bald aber merkte, dass er sich verirrt hatte. Aus dem Jüngling, der sogar am Krieg nichts Anstößiges fand, wurde der erbitterte Kritiker einer verhängnisvollen Politik, der Verfasser des Romans »Die kleine Stadt«, der ein »Hohelied der Demokratie« wurde, und der satirischen Abrechnung mit der willenlosen Unterwürfigkeit, dem Chauvinismus und der Machtanbetung im »Untertan«. Das Buch, abgeschlossen noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, nahm vorweg, was dann geschah. Es wurde - Ende 1918 endlich veröffentlicht - sein größter Erfolg und bildete später mit den Romanen »Die Armen« und »Der Kopf« die Trilogie des Kaiserreichs.

In den 20er Jahren trat neben den Erzähler Heinrich Mann mehr und mehr der Tagesschriftsteller. Die Inflation zwang ihn, »Dinge zu unternehmen, die sofort Geld bringen«, und es begann die glanzvolle Zeit des Publizisten. Er verfasste neben Novellen und Romanen Reden, Proteste, Erklärungen und Kritiken. Er verlangte, dass sich die deutsche Demokratie wappne gegen ihre Feinde, die rechten Verbände und Parteien, attackierte Justizwillkür und Antisemitismus. Später, 1943, wird er in einem Brief an Alfred Kantorowicz schreiben: »Ich tat, was ich konnte.« Es half nicht. In den maßgeblichen Kreisen »trieben alle denselben Schwindel«.

Joseph Roth, der 1920 von Wien nach Berlin gezogen war und seine ersten Romane schrieb, war von den Aktivitäten Heinrich Manns überwältigt. Anfang 1924 veröffentlichte er im »Vorwärts« seinen Text »Der tapfere Dichter«, der im Vorspruch den mangelnden Schriftsteller-Protest gegen die rechten Gewalttaten beklagte. Für ihn war Heinrich Mann »der einzige Rufer von Geist im brüllenden Streit der reaktionären Barbaren (des Großkapitals, des Nationalismus, des völkischen Gedankens)«. Roth fragte: »Wie viele Dichter von Ansehen und Rang schreiben noch so in Deutschland? Wen von ihnen kümmert das Parlament, dieser Stinnes, diese Industrie, dieser Patriotismus?«

»Von allen deutschen Schriftstellern«, wird auch Bruder Thomas 1925 sagen, »ist Heinrich Mann der gesellschaftsbewußteste; er ist ein Mann, dessen Interessen in einem Ausmaß gesellschaftlich und politisch sind, das zwar in westeuropäischen und speziell romanischen Ländern nicht außergewöhnlich, bei uns aber ohne Beispiel ist.«

Tatsächlich: Es gab damals keinen zweiten Schriftsteller im Land, der sich, »ohne Respekt vor den herrschenden sozialpolitischen und künstlerischen Konventionen«, wie Hermann Kesten bewundernd registrierte, so vehement, so kritisch, auch so oft zu Wort meldete: gegen das Zensurgesetz der Regierung, für die Verständigung mit Frankreich, gegen die Verächter der Republik, gegen Hitler und seine Anhänger, für eine Diktatur der Vernunft. Im Februar 1933 exilierte er nach Frankreich.

Kaum in Sicherheit, nahm er den publizistischen Kampf gegen die Nazis sofort wieder auf. Er schrieb für die in aller Eile gegründeten deutschen Exilzeitschriften, erzählte in seinem zweibändigen Epos von Henri Quatre, dem »guten König«, der die Religionskriege beendete und seinem Land den Frieden brachte, schilderte in grandiosen Szenen die Bartholomäusnacht von 1572, als in Frankreich die Protestanten gemeuchelt wurden (»Es war wirklich wie zu Hause in Deutschland«), veröffentlichte noch im Sommer 1933 den Essayband »Der Haß« mit Texten zur deutschen Zeitgeschichte, schrieb regelmäßig für die Zeitung »La Dépêche« in Toulouse, wurde der Patron für die gewünschte und misslungene Einheit der Antifaschisten im Exil.

Er arbeitete wie im Rausch, diszipliniert, schnell, hoch konzentriert. »Das Außerordentliche an den Aufsätzen, die Heinrich Mann im Exil veröffentlichte«, wird Brecht 1938 äußern, »scheint mir der Geist des Angriffs zu sein, von dem sie erfüllt sind.« Im Juni 1935 dann der emotionalste Moment der französischen Exiljahre: In Paris tagte, ein großer Augenblick in der europäischen Kulturgeschichte, der Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, und er, Heinrich Mann, wurde seine Lichtgestalt. Die Delegierten, darunter Autoren mit glanzvollen Namen, erhoben sich, als er das Podium betrat. Sie feierten ihn mit Ovationen.

Von diesem Heinrich Mann, dem großen Erzähler und herausragenden Essayisten (der jetzt in einer mehrbändigen Edition des Aisthesis-Verlages vollends sichtbar wird), ist heute kaum noch die Rede. Seine »Verkennung« (im Westen, muss hinzugefügt werden) gehe auf »seine Verstrickung als Satiriker in das allzu Zeitbedingte« zurück, hieß es 1971 im Band über eine Lübecker Heinrich-Mann-Konferenz. Ein Autor, der in einem handschriftlich verfassten Lebenslauf bekannte, »dass die Literatur zeitgeschichtlich bedingt und den Kämpfen der Mitwelt verpflichtet ist«, galt dort vor 50 Jahren so wenig wie heute.

Natürlich vergaß man im Westen dabei nie, dass sich Heinrich Mann nach langem Zögern doch noch entschlossen hatte, seinen ungeliebten Exilort in Kalifornien zu verlassen, um in Ostberlin das angebotene Amt als Präsident der Akademie der Künste anzutreten (was sein Tod im März 1950 verhinderte). 1985 war der Romancier (wie auch sein Bruder Thomas) für Joachim Fest ein »Unpolitischer«, schwankend zwischen »humaner Vernunft, Verblendung und Gespensterglauben«; und Marcel Reich-Ranicki empfahl 1987 allen Ernstes, sich von ihm zu verabschieden. Eine neuere Biografie nennt ihn einen »allerletzten Romantiker«, eine andere bereits im Untertitel einen »politischen Träumer«.

In Zeiten unfassbarer Geschichtsverdrängung ist dieser Heinrich Mann, der es - hellsichtiger und mutiger als die meisten - schon 1914 besser wusste, der den Deutschen ihr Maulheldentum und die latente Aggressivität vorhielt, der Ungeliebte geblieben, das Werk kaum beachtet, sein beispielhaftes Wirken so gut wie unbekannt. Nein, hält der Schauspieler Ulrich Tukur dieser Tage demonstrativ dagegen: »Es gab im 20. Jahrhundert nicht wenige herausragende Persönlichkeiten, die auch heute noch als große Vorbilder dienen können. Dazu gehört zweifelsohne und in ganz besonderem Maße Heinrich Mann.«

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