Sechs verlorene Tage

Warum US-General Patton vor dem KZ Buchenwald haltmachte

  • Lothar Günther
  • Lesedauer: 3 Min.

Zigtausende vom deutschen Faschismus gedemütigte, hinter Gittern und Stacheldraht eingekerkerte Menschen sehnten in den Apriltagen 1945 den Tag herbei, an dem die alliierten Streitkräfte sie endlich befreien würden. Am 1. April 1945 trat die 3. US-Armee unter General George S. Patton ihren Sturmlauf in Richtung Thüringen an. Das zu diesem Zeitpunkt noch etwa 80 Kilometer vor ihnen liegende KZ Buchenwald gehörte nicht zu ihren operativen Zielen. Nahziele waren die Eroberung der Städte nördlich der Autobahn A4 sowie die Besetzung eines zwischen Arnstadt und Kranichfeld vermuteten deutschen Nachrichtenknotenpunktes. Bei Ohrdruf stieß man auf ein Außenlager von Buchenwald. Die GIs machten dort als Erste die erschütternde Erfahrung, mit welcher Brutalität die Nazis Menschen traktierten. In der Gemeinde Crawinkel waren ab November 1944 bis zu 20 000 KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter gezwungen, im Akkord 25 Stollen in den Berg zu treiben. Es wird bis heute angenommen, dass dort ein neues »Führerhauptquartier« entstehen sollte.

Angesichts der Kriegslage wies SS-Chef Heinrich Himmler am Ostermontag, dem 2. April 1945, den SS-Kommandanten des Sonderlagers S III telefonisch an, das Lager zu »evakuieren« und als besonders gefährlich erachtete politische Gefangene zu ermorden. Der unter dem Eindruck der Entdeckung der Leichen unverzüglich von US-Korpsangehörigen verfasste Bericht hat Patton mit Sicherheit kurzfristig erreicht. Die Nachrichtentruppe der US-Army dokumentierte umgehend das Grauen, das in der US-Presse, darunter der »New York Times«, einen Sturm des Entsetzens und die Forderung nach Vergeltung auslöste. Es wäre eine humanitäre Pflicht des eigentlich für seine Entschlossenheit gerühmten Generals gewesen, unverzüglich auf das Hauptlager Buchenwald zu marschieren, was über die A4 möglich war, ohne nennenswerten Widerstand der Nazis brechen zu müssen.

Die »Evakuierung« des Hauptlagers auf dem Ettersberg durch die SS begann am 7. April. 28 000 Häftlinge wurden auf den »Todesmarsch« getrieben oder in Viehwaggons nach Dachau deportiert. Ohne Zweifel wären viele der dabei ums Leben gekommenen 12 000 bis 15 000 Häftlinge durch ein forciertes Eingreifen der US-Armee zu retten gewesen. Patton unterlag zwar einem Haltebefehl, damit die 1. und 7. US-Armee aufrücken könnten. Doch niemand hätte den General gemaßregelt, wenn er sich auf einen Befehlsnotstand berufen und gehandelt hätte. Er tat es leider nicht. Es vergingen sechs entscheidende Tage, bis am 11. April eine vierköpfige US-Aufklärungsmission der 6. US-Panzerdivision das KZ Buchenwald erreichte und unverzüglich Meldung erstatte. Nur 35 Minuten später durchbrachen Panzer der 4. US-Panzerdivision den Lagerzaun. Da hatten sich die Häftlinge schon erhoben, die SS großteils überwältigt.

Patton selbst hat sich nie dazu geäußert, ob er Tausenden Häftlingen das Leben hätte retten können. Entsprechend seinem egozentrischen Naturell inszenierte er die Besetzung des Lagers für die Weltöffentlichkeit als eine entschlossene Tat seiner Truppe. Mit nachhaltiger Wirkung bis heute. Die Versäumnisse des in den USA gerühmten, in der Historiografie jedoch umstrittenen Generals wurden unter den Teppich gekehrt.

Mehr Entschlossenheit zeigte Patton, als es um die Einnahme eines Kriegsgefangenenlagers ging, in dem sein 1943 in Tunesien in deutsche Hände gefallener Schwiegersohn, John K. Waters, inhaftiert war. Den Ort von dessen Inhaftierung hatte Patton über das Rote Kreuz erfahren. Das Lager befand sich 60 Kilometer jenseits der Frontlinie von Pattons 3. Armee und im Operationsbereich der 7. Armee. Der auf seinen Befehl hin erfolgte Vorstoß einer schwer bewaffneten Kampfgruppe entwickelte sich zum Desaster. Waters wurde bei der Befreiung schwer verletzt, die Spezialeinheit nahezu vollständig vernichtet; nur 35 der 314 beteiligten US-Soldaten überlebten. Man hatte Verständnis, dass sich Patton freute, seinen jahrelang als vermisst geltenden Schwiegersohn aufgefunden und befreit zu haben. Was mögen aber die vielen US-Soldaten, die nicht sein Glück teilten, gedacht haben? Und wie kann man den Tausenden Buchenwaldern gerecht werden, denen in den letzten Kriegstagen durch Versäumnisse das Leben genommen wurde?

Von Lothar Günther erschien unlängst im Wehry-Verlag »Die amerikanische Episode 1945. Auf den Spuren des XII. US-Korps der 3. US-Armee in Südwest-Thüringen« (244 S., br., 29,90 €).

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