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  • Igor Matviyets aus Sachsen-Anhalt

Der »Hallunke« aus Mykolajiw

Igor Matviyets ist in Sachsen-Anhalt einer von wenigen Politikern mit Migrationsgeschichte

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 6 Min.

Viel mitnehmen konnten sie nicht. Nur »sechs oder acht Taschen« hatten Igor Matviyets und seine Eltern im Gepäck, als sie ihre Heimat in der Ukraine verließen. Es war 1999, Matviyets gerade einmal sieben Jahre alt. Doch der heute in Halle wohnende Jung-Politiker erinnert sich noch gut: »Ich musste meine Spielsachen aussortieren. Nach und nach wurden Möbel abgeholt, Freunde verabschiedet. Was wir mitnahmen, haben wir in solche Plastiktüten mit kariertem Muster gepackt, die es in Ein-Euro-Shops zu kaufen gibt.« Dann stiegen sie in den Reisebus. Zweieinhalb Tage dauerte die Fahrt von Mykolajiw am Schwarzen Meer nach Deutschland, über 2000 Kilometer entfernt begann für die Familie in Saarbrücken ein neues Leben: »Mein Vater hatte während der Fahrt Geburtstag. Das war eine sehr aufregende Zeit.«

Eine Zeit, die Matviyets bis heute prägt. Der 29-Jährige sitzt in seiner Wohnung in Halle, hinter ihm auf der Kommode ein selbstgemaltes Porträt, das wie ein Wahlplakat aussieht. »Das hat mir eine Freundin geschenkt«, sagt er. »Jung, weltoffen, stark« – so die ihm auf dem »Wahlplakat« zugeschriebenen Charaktereigenschaften. Gern gebrauchte politische Floskeln, die jedoch bei Matviyets auf einen dazu passenden biografischen Hintergrund treffen: in der Ukraine geboren, in Westdeutschland aufgewachsen, im Osten studiert. Und: als Jude seit jeher Teil einer gesellschaftlichen Minderheit. Was bedeutet Heimat für einen solchen Menschen? Matviyets muss gar nicht lange überlegen, antwortet ganz spontan: »Der Ort, an dem man Routinen entwickelt hat, die einem das Leben angenehm machen.« Dieser Ort ist jetzt: Halle an der Saale.

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Dass Matviyets sein Zuhause während des nd-Gesprächs mit einem »Wahlplakat« schmückt, ist natürlich kein Zufall. Der Hallenser – oder »Hallunke«, wie man nach Halle Zugezogene in der Stadtgesellschaft bezeichnet – kandidiert für die SPD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni. Sein Programm ist weit gefasst, da passt die Vielfalt gewissermaßen zur Biografie: Neben einer sozial-ökologisch ausgerichteten Mobilität kämpft Matviyets für mehr Tarifbindung, gute Kitas und Schulen und »als überzeugter Antifaschist, Mitglied der jüdischen Gemeinde und angehender Vater« – der Nachwuchs wird im Juli erwartet – für ein Zusammenleben, das »nicht von Angst und Hass bestimmt wird«.

Man könnte auch sagen: Igor Matviyets kämpft gegen Dinge, die er selbst erlebt hat. Gegen Armut, wie er sie noch aus seiner Kindheit in der Ukraine in Erinnerung hat: »Wir haben in der Nähe eines Bahnhofs gewohnt. Ich habe da sehr viel Armut gesehen. Menschen, die auf Kartons an der Straßenecke sitzen, die Snickers und Sprite verkaufen. Obdachlose, die von Haus zu Haus gehen und sich das Nötigste zusammensammeln.« Aber auch: gegen die Ressentiments, die ihm nach seiner Ankunft in Deutschland begegneten: »Andere Kinder, die mir gegenüber gewalttätig wurden, weil ich nicht ihre Sprache gesprochen habe. Lehrer, die despektierlich mit Kids umgingen, die nicht in Deutschland geboren wurden.«

Diese Zeiten sind lange vorbei, doch in Igor Matviyets' Gedanken noch immer präsent. Auch wenn er sich in Halle, wo er seit nunmehr neun Jahren lebt, pudelwohl fühlt. »Halle ist eine Großstadt, die sich wie eine Kleinstadt anfühlt«, sagt er und lacht: »Wenn mich Leute aus anderen Städten besuchen, sind die immer verwundert, wie oft man hier gegrüßt wird. Die finden das teilweise sogar unangenehm.« Matviyets dagegen wirkt offen, gesprächig – eine Eigenschaft, die ihm nun im Wahlkampf durchaus helfen könnte. Gerade in Halle, einer Stadt der Gegensätze: Da ist einerseits das bürgerliche Zentrum, wo viele Studenten wohnen, wo es viele kulturelle Angebote gibt. Andererseits gibt es aber auch weitläufige Plattenbau-Randgebiete, die hohe Armutsquoten aufweisen. Das richtige Pflaster für einen wie Matviyets, der in seinen 29 Jahren schon viele verschiedene Seiten des Lebens kennengelernt hat.

Sollte er den Einzug ins Parlament schaffen, dann wäre er einer von nur wenigen Mandatsträgern mit eigener Migrationsgeschichte. In der ablaufenden Legislaturperiode sitzt im Landtag nur ein Abgeordneter, der nicht in Deutschland geboren wurde. Es ist ausgerechnet ein AfD-Politiker: der in Rumänien geborene Hans Thomas Tillschneider, der dem offiziell aufgelösten »Flügel« um Björn Höcke und Andreas Kalbitz angehört.
Ein Erfolg von Matviyets wäre ein Zeichen – gerade in einem Bundesland, in dem vergleichsweise wenige Migranten leben und das seit den 1990er Jahren immer wieder Schlagzeilen macht durch rechte Gewalt auf den Straßen und zuletzt auch durch Rechtsradikale im Parlament.

Gewiss: Seine Chancen sind begrenzt, da er auf der Landesliste nur auf Platz 28 steht. In der aktuellen Legislaturperiode haben die Sozialdemokraten gerade einmal elf Sitze, Tendenz stagnierend. Aber: Matviyets kandidiert auch direkt, im Wahlkreis Halle III. Dieser Bezirk umfasst Teile des grün geprägten Stadtzentrums wie auch konservative Randzonen. Ein Spagat für einen Sozialdemokraten? »Das ist ja das, was uns immer vorgeworfen wird«, lacht er und führt aus: »Wir schätzen viele Perspektiven wert. Ich trete so breit wie möglich auf. Ich rede mit Unternehmern, Vereinen jeglicher Art, Ladenbetreibern, Gemeindevertretern aus der Kirche. Ich habe da keine Berührungsängste.«
Da ist sie wieder: diese kommunikative Ader, diese betonte Vielseitigkeit. Und auch wenn »die letzten Jahre nicht rosig waren für die SPD«, rechnet sich Matviyets angesichts eines durchaus offenen Rennens in den beiden Großstädten Halle und Magdeburg – im Gegensatz zum ländlichen Raum, wo CDU und AfD dominieren – etwas aus: »Ich bleibe optimistisch.«

Und doch gab es zuletzt auch ein Ereignis, das seine Verbundenheit zu Halle auf sehr traurige Weise bestärkt hat: der Anschlag vom 9. Oktober 2019. Wenn Matviyets an diesen Tag zurückdenkt, dann stockt er kurz: »Das war sehr belastend.« Er selbst war nicht in der Synagoge, als ein Attentäter am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hineinzustürmen versuchte – doch befand sich nur wenige Meter entfernt. »Es war für mich ein normaler Arbeitstag«, berichtet er: »Dann sind die Nachrichten eingeprasselt. Wir haben den Fernseher angemacht, die Ereignisse live mitverfolgt.« Gesehen, dass der Attentäter an der Tür des Gotteshauses scheiterte und anschließend zwei Menschen ermordete. Immerhin: Dass der Mann nicht in die Synagoge eindringen konnte, dass alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde überlebten, nahm dem Juden Matviyets »eine Teillast«.

Der Anschlag beschäftigt ihn bis heute. Als sich die Hallenser ein Jahr danach auf dem Marktplatz versammelten und für drei Minuten schwiegen, war Matviyets mitten unter ihnen. Zugleich verfolgt er die politische Aufarbeitung sehr genau: »Die Perspektive der Betroffenen wird nicht ausreichend wertgeschätzt«, kritisiert er. Für ihn, den Jung-Politiker, ist das nun ein Auftrag – einer von vielen.

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