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Die zersägte Jungfrau

Judith Hermanns neuer Roman »Daheim« ist nur vordergründig einfach, denn er birgt ein Geheimnis

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieser Sog beim Lesen, obwohl eigentlich nichts Spektakuläres passiert - wie gelingt der bloß? Judith Hermann lässt eine Frau erzählen, die wohl auf die 50 zugeht. Mit einfachen Worten, in kurzen Sätzen spricht sie von ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Man könnte es fast überlesen, dass sie auf Seite 57 die Zeitform wechselt: Bis dahin blickte sie zurück, nun geschieht alles im Jetzt. Ist sie also angekommen im Haus an der Nordsee, das sie für sich gemietet hat? Dass es außerhalb des Dorfes, einsam an einer ungepflasterten, sandigen Straße steht, hat sich so ergeben, doch weder für die Ich-Erzählerin noch für die Autorin könnte es wohl anders sein.

Wie in ihrem legendären Debüt von 1998 »Sommerhaus später« hat auch dieser Text etwas Schwebendes, das eigentlich im Gegensatz zum Buchtitel steht. »Daheim« ist eine Festlegung. Gemeint ist ein Ort der Verwurzelung, auch mit Verpflichtungen verbunden. Endpunkt eines Herumirrens, das viel besser zum Erzählen taugt. Es ist der Weg zu diesem »Daheim«, auf dem wir die Ich-Erzählerin begleiten, hoffend, sie möge erreichen, was sie ersehnt, beobachtend, wie sie mal die Hände ausstreckt und dann wieder zurückzieht. Mit ihr fühlend, wie sie zögernd Bekanntschaften macht und ihre Verlorenheit kaum los wird.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Vor fast 30 Jahren, erinnert sie sich, hatte sie in einer Zigarettenfabrik gearbeitet. »In der Mittagspause musstest du Mahlzeit sagen.« Doch sie hat das nicht über die Lippen gebracht. Der Schichtleiter bestellte sie zu sich: »Wenn du nicht in der Lage bist, Mahlzeit zu sagen, fliegst du raus.« Eine beeindruckende Episode, oder nicht? Wer sie nachempfinden kann, dem wird das Buch gefallen. Wer darüber den Kopf schüttelt, könnte es womöglich langweilig finden, wie Fremde in ländlicher Umgebung zögerlich miteinander umgehen. Die Autorin tut alles, damit wir uns in die innerlich einsame Frau hineinversetzen, aber es hängt von der Leserin, dem Leser ab, ob das gelingt.

So wie die Ich-Erzählerin haben auch die anderen Gestalten mit einer Zurückgezogenheit zu tun, die sich lediglich unterschiedlich ausdrückt. Der Bruder, in dessen Kneipe sie aushilft, ist mit fast 60 zum ersten Mal verliebt - bis zum Wahnsinn begehrt er eine 20-Jährige, mit der es unmöglich etwas werden kann, eine Streunerin, die am Ende ums Leben kommt. Er hat ein Haus gekauft, alt, fertig eingerichtet, doch er bewohnt nur wenige Räume.

Der einstige Ehemann scheint irgendwie verrückt zu sein, aber wie das so ist, es bleibt doch eine gewisse Bindung. Und Tochter Ann ist in die Welt gezogen - kurze Nachrichten auf dem Handy, es gehe ihr gut. »Kinder wecken Gefühle in dir und gehen los und lassen dich mit den Gefühlen im Regen stehen«, hatte ihr Mann gesagt.

Mit der vollbusigen Nachbarin Mimi kann man immerhin abends noch ein Glas Wein trinken. Mit deren Bruder Arild, der einen Hof mit über 1000 Schweinen hat, ist sie »wie zufällig zusammen alleine auf einem fremden Planeten«. Als sie aufwacht, spürt sie seinen Kopf zwischen ihren Schulterblättern, und in der Küche ist der Tisch für zwei gedeckt. »Ich denke, ich könnte eine andere sein, als die, die ich bin.«

Ob es ihr zuflog oder ob sie lange daran gefeilt hat, sprachlich präzise weiß Judith Hermann Situationen zu erfassen, in denen man eine Tiefe erahnt. Lapidare Sätze können ein Geheimnis bergen. Wer auch immer in diesem Buch auftritt, scheint sein eigenes Rätsel zu haben. »Es ist hier nicht romantisch«, sagt Arild. Mimi erzählt das Märchen von einer gefangenen, misshandelten Nixe. »Warum kommt dir das nicht bekannt vor?«, fragt sie. »Steinalt und langweilig, die älteste Geschichte der Welt. Frauen. Geknechtete, gequälte, unfreie und misshandelte Frauen.«

Als sie damals in der Zigarettenfabrik arbeitete, erinnert sich die Ich-Erzählerin, sei sie von einem distinguierten Herrn angesprochen worden, schwarzer Anzug, Haare schlohweiß, Schuhe aus Schlangenleder. Er sei Zauberkünstler und suche eine neue Assistentin für seine Auftritte auf einem Kreuzfahrtschiff. Die Reise gehe nach Singapur. »Sie bekommen eine Außenkabine, Sie können am Bullauge stehen und mit Meeresblick rauchen.« Was sie tun müsse? Sich dreimal in der Woche in eine Kiste legen, »ich zersäge Sie - zum Schein -, und dann setze ich Sie wieder zusammen … Sie kommen mich besuchen, wir probieren es aus … Machen Sie sich keine Sorgen, meine Frau ist dabei.«

Sie ging tatsächlich hin. Für den Zaubertrick mit der zersägten Jungfrau legte sie sich probehalber in die Kiste und zog die Beine an … Allerdings ist sie nicht nach Singapur gereist, den Zauberer hat sie nie wieder gesehen. Später behauptete ihr Mann, dass alles anders gewesen sei, aber auch er konnte es wohl so genau nicht wissen.

»Mimis Worte, Frauen, die in Kisten gesperrt und unter Betten geschoben, bei Bedarf rausgeholt und dann wieder in Kisten gesperrt werden, warum habe ich damals nicht daran gedacht. Oder habe ich daran gedacht. Oder habe ich daran gedacht, und es hat mich nicht gekümmert …« Etwas muss geschehen sein, das wir so genau nie erfahren werden. Und wie wir auch rätseln, es zählt, wie sich eine Frau von all dem befreit. »Wir sind Trabanten, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene.« Es ist die Energie dieses Suchens, die sich bei der Lektüre auf eine Weise überträgt, dass es guttut.

Judith Hermann: Daheim. S. Fischer. 189 S., geb., 21 €.

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