Willkommen und Abschied

In Brandenburg/Havel ist seit Freitag eine Freiluftausstellung über Menschen zu sehen, die zwischen 1945 und 2015 in die Gegend kamen

Mokhtar K. ist 1974 in der afghanischen Hauptstadt Kabul geboren und in Kandahar aufgewachsen. In Wolgograd hat er Russisch und Elektriker gelernt, acht Jahre in Russland gelebt und gearbeitet. 1998 kehrte Mokhtar nach Kandahar zurück. Bei den US-Truppen, die seit 2001 dort stationiert waren, fand er einen Job als Fahrer, heiratete, wurde Vater.

Doch die Taliban bedrohten Landsleute, die für die US-Amerikaner arbeiteten. Als ein Kollege erschossen wurde, sah Mokhtar nur den Ausweg, seine Heimat wieder zu verlassen. Er versprach seiner Familie, sie so bald wie möglich nachzuholen und machte sich auf den Weg über den Iran und die Türkei nach Europa. Mit 75 Menschen in einem Schlauchboot, das nur für 25 Personen zugelassen war, gelangte er übers Mittelmeer nach Griechenland und über die Balkanroute nach Deutschland. Jetzt lebt er in einer Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg/Havel, ist als Küchenhilfe im Krankenhaus beschäftigt. Sein russischer Abschluss als Elektriker wird in der Bundesrepublik nicht anerkannt. Mokhtar lebt spartanisch und schickt alles, was er von seinem Lohn erübrigen kann, seiner Frau und seinen vier Kindern nach Afghanistan. Er hat sie jetzt viereinhalb Jahre nicht mehr gesehen. Auf der Straße wurde er schon als »Scheiß Ausländer« beschimpft. Er tröstet sich: »Im Dschungel gibt es verschiedene Tiere. Nicht alle Menschen können gut sein.«

Das ist das Schicksal von Mokhtar K. - eines von vielen und zugleich eines von zehn, die eine Freiluftausstellung auf der Dominsel von Brandenburg/Havel erzählt. Am Freitagnachmittag wurde sie an der St. Petrikirche eröffnet. In Wort und Bild werden alte und junge Männer und Frauen mit unterschiedlichen Biografien vorgestellt. Gemeinsam ist ihnen, nicht ihr ganzes Leben an einem Ort verbracht zu haben. Einige sind nach Brandenburg/Havel geflüchtet, andere aus freien Stücken hergezogen. »Losgehen und Ankommen - Menschen in Brandenburg an der Havel und Umgebung zwischen 1945 und 2015« lautet der Name der Ausstellung, die nun bis zum 29. Oktober am Burgweg präsentiert wird. Es gibt auch einen Katalog und einen sechsminütigen Film.

Obwohl draußen aufgestellt, gibt es Öffnungszeiten, da das Gelände nicht jederzeit zugänglich ist. Montags bis samstags von 10 bis 17 Uhr und sonntags von 12 bis 17 Uhr kann man sich die Fotos der Porträtierten anschauen und die Interviews mit ihnen durchlesen. Der Eintritt ist frei. Die berührende Ausstellung ist ein von der Stadt gefördertes Projekt der evangelischen Kirchengemeinden der Region in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk, dem Förderverein der brandenburgischen Akademie 2. Lebenshälfte und der Produktionsfirma Synopsisfilm Berlin.

Hierbei werden auch Deutsche mit Fluchterfahrung vorgestellt, darunter die 1924 in Dürrlettel geborene Kristhild K. Der Ort war bis zur Niederlage Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg Teil der Provinz Brandenburg, heute gehört er zu Polen und heißt Lutol Suchy. Kristhilds Vater besaß dort einen Bauernhof und 160 Morgen Land. 1945 kamen erst sowjetische Soldaten, dann die polnische Miliz. Kristhild K. erinnert sich: »Ein Pole sagte zu uns: ›Wir mussten das P am Rock tragen, aber euch Deutschen wird das D in die Stirn eingebrannt.‹ Mein Vater besänftigte mich: ›So was sagt ein Mensch nur im Zorn, wenn ihm Böses zugefügt wurde.‹«

Am 26. Juni 1945 mussten die Dorfbewohner innerhalb von zwei Stunden ihre Häuser räumen und den Ort verlassen. Nur Handgepäck durften sie mitnehmen. In Frankfurt (Oder) kam die Familie erst einmal bei Verwandten unter. Aber der Vater bemerkte: »Hier können wir nicht bleiben. So dicht an der Grenze ist alles überfüllt. Da gibt’s auch keine Arbeit.« So zog die Familie weiter. Unterwegs klopfte sie an viele Türen, doch niemand öffnete. Die Flüchtlinge aus dem Osten galten als »Landplage«. In der Gegend von Brandenburg/Havel findet die Familie endlich ein Plätzchen, wo sie bleiben kann. Als Neusiedler erhalten sie im Zuge der Bodenreform 20 Morgen Land, drei Schafe und einen Ochsen. 1949 heiratet Kristhild und spart fleißig, bis sie sich 1960 mit ihrem Mann ein Grundstück in Brielow kaufen kann. Dort lebt sie heute noch. Lutol Suchy betrachtet sie als ihre Heimat, aber Brielow als ihr Zuhause. Denn hier sind ihre Kinder, Enkel und Urenkel zur Welt gekommen.

Nicht geflüchtet, sondern 1983 aus der DDR ausgereist ist die im uckermärkischen Templin geborene Martina R. Sie studierte Theologie und lernte bei einer Ost-West-Studentenbegegnung ihren Mann kennen. 1983 erhielt sie die Erlaubnis, zu ihm überzusiedeln. Das war ein großer Einschnitt. »Wir hatten uns ja mit der DDR irgendwie arrangiert und lebten mit der Vorstellung, vielleicht könne man ja doch irgendwo was verändern«, sagt sie. »Wir glaubten an den Sozialismus, wenn auch nicht an den der SED. Für uns war es durchaus eine Gesellschaftsformation, die eine Perspektive hatte.« Angekommen in Köln hatte Martina R. erst einmal keine Perspektive. Die Rheinische Landeskirche erklärte, ihr Examen und ihr Vikariat werde nicht anerkannt. »Meine Wurzeln, meine Aufgaben, alles war weg. Ich bekam zwar mein Arbeitslosengeld - für einen DDR-Menschen, als der ich mich noch immer fühlte, ein Unwort!« Nach einem Jahr wurde ihr Examen dann doch anerkannt, aber weiterhin nicht das Vikariat. Sie musste es wiederholen. »Ich wollte auf eigenen Füßen stehen, um ich selbst zu sein«, sagt sie. Daran denkt sie heute, wenn Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen. Dabei laufe Integration doch vor allem über Arbeit.

2012 kehrte Martina R. nach sechs Jahren in Köln und 22 Jahren in Saarbrücken zurück in die Heimat, nicht in die Uckermark, aber immerhin ins Land Brandenburg. Sie fand eine Stelle im Pfarrsprengel Päwesin. »Das Ankommen war schön«, berichtet sie. »Dieses gleich Angenommensein von den Menschen.« Im Interview wird Martina R. gefragt: »Werden Fremde oder Flüchtlinge hier auf dem Land akzeptiert?« Sie antwortet: »Sehr unterschiedlich. Es gibt auf den Dörfern hier viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge hergekommen sind. Das spielt immer noch eine Rolle. Aber ich erlebe eben auch große Vorbehalte gegen die Geflüchteten. Wenn ich als Pfarrerin beispielsweise in eine Geburtstagsrunde komme, wird darüber bewusst nicht geredet. Die Pfarrerin ist ja da.«

Das Klischee der zugezogenen Westdeutschen erfüllt ein Stück weit Adelheid van L., deren voller Name sich wegen ihrer Funktion leicht recherchieren lässt, die aber nur so verkürzt genannt werden soll, wie auch die anderen Porträtierten in der Ausstellung vorgestellt werden. Adelheid stammt aus Schwäbisch Gmünd und ist 1996 mit den drei damals noch kleinen Kindern ihrem Mann gefolgt. Der hatte 1990 das Angebot erhalten, entweder bei Lüneburg oder in Brandenburg/Havel eine Filiale der Commerzbank zu übernehmen. Adelheid lebt in einem schönen Haus mit großem Garten. Sie hat - man möchte fast sagen: natürlich - eine Chefposition, ist Direktorin des Amtsgerichts, gebietet über 120 Mitarbeiter, kommentiert das allerdings ironisch: »Ich bin der oberste Klopapierbesteller.« Sie liebt den manchmal derben Humor der Brandenburger und ihr gefällt, wie sich die Nachbarn helfen.

Adelheid wirkt alles andere als unsympathisch. Sie engagiert sich bei der Tafel, die Lebensmittel an Bedürftige abgibt, und seit drei Jahren kümmert sie sich um Francis und René, zwei Geflüchtete aus Kamerun, die sie jede Woche mindestens einmal zum Essen einlädt. Einmal erlebte sie, selbst als Fremde behandelt zu werden, sogar von einer Freundin. Als es politischen Streit um die Bebauung eines Grundstücks gab, sagt sie, da habe die Freundin in einer Diskussion sinngemäß geäußert: »Auch wenn ihr jetzt 20 Jahre hier seid: Ihr habt da nicht mitzureden.«

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