Schulmisere in Italien weitet sich aus

Während der Coronakrise haben noch mehr Kinder und Jugendliche Anschluss an die Bildung verloren

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Offizielle Zahlen des Bildungsministeriums in Rom gibt es keine - aber aus vielen Einzelstudien geht hervor, dass die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Gesellschaft die prekäre Bildungsgleichheit in Italien stark gefährden. Im Laufe des letzten Jahres haben viele Jugendliche der Schule den Rücken zugekehrt und werden mit aller Wahrscheinlichkeit ohne Abschluss und ohne Berufsausbildung in das Erwachsenenalter eintreten.

Italien hatte mit 13 Prozent auch vor Corona schon eine hohe Anzahl von Jugendlichen, die vor Beendigung der Schulpflicht (von sechs bis 16 Jahren) ausgeschert sind. Doch laut einer Studie der katholischen Organisation Comunità di Sant’Egidio hat sich die Lage im vergangenen Jahr mit den monatelangen Schulschließungen und dem Distanzunterricht, der häufig nicht richtig funktioniert hat, dramatisch verschlechtert: »Wir gehen davon aus, dass 25 Prozent der Schüler Gefahr läuft, verloren zu gehen. Im Süden des Landes steigt sie Zahl sogar auf 33 Prozent.«

Besonders betroffen sind die Peripherien der Großstädte und diejenigen Kinder, die aus sogenannten bildungsfernen Familien kommen. Einige Eltern haben ihre Kinder bei Beginn des neuen Schuljahres einfach nicht wieder angemeldet, viele Jugendlichen sind jeder Form von Unterricht ferngeblieben. Bei anderen gibt es so viele Fehltage, dass sie im kommenden Jahr dem Stoff garantiert nicht mehr folgen können beziehungsweise gar nicht mehr zugelassen werden können.

Die Studie besagt auch, dass fast die Hälfte der Kinder in Italien große Schwierigkeiten hatte, dem Distanzunterricht zu folgen: Sei es, weil sie keine Computer oder Tablets hatten, weil die Leitungen nicht ausreichten oder sie in den Familien keinerlei Unterstützung hatten.

Verschiedene mit der Thematik befasste Organisationen haben unterschiedliche Zahlen ermittelt: Die einen sprechen von 34 000 »Schulflüchtlingen«, andere sogar von 160 000 Kindern und Jugendlichen, die ohne jeglichen Abschluss dastehen werden. Besonders gravierend, so belegt das italienische Statistikamt mit Sitz in Rom ISTAT, ist die Situation der Schüler mit Behinderungen, die in Italien fast überall mit Hilfe von Sonderlehrern in den regulären Unterricht integriert sind. Aus dieser Gruppe haben im vergangenen Jahr 25 Prozent überhaupt keine Unterstützung erhalten.

Inzwischen beschäftigen sich zunehmend auch die Jugendgerichte mit dem Problem. Anna Cau, die Oberstaatsanwältin von Cagliari, der Hauptstadt der Insel Sardinien, hat an alle Schulleiter ihrer Stadt geschrieben und diese aufgefordert, genau aufzulisten, welche Schüler an keinem Unterricht mehr teilnehmen und welche die Schule nur noch sehr unregelmäßig besuchen. »Die Zahlen sind erschreckend«, beklagt Oberstaatsanwältin Cau. »Wir haben uns dann sofort mit den sozialen Diensten in Verbindung gesetzt, die jetzt auf die einzelnen Familien zugehen. Wer Hilfe braucht, hat das Recht, Hilfe zu bekommen!«, sagt sie.

Staatsanwältin Maria de Luzenberger aus Neapel macht ähnliche Erfahrungen. Sie hat in nur sechs Wochen bereits 900 Meldungen über Verstöße gegen die Schulpflicht auf den Tisch bekommen, während es in den zurückliegenden Jahren nie mehr als 400 bis 500 insgesamt waren. »In unserer Stadt ist die Anzahl der Jugendlichen, die ihrer Schulpflicht nicht nachkommen, sowieso schon sehr hoch. Aber jetzt ist die Lage sehr beunruhigend. Wir gehen jedem einzelnen Fall nach ... aber das erfordert viel Einsatz, viel Personal und viel Zeit.«

Die meisten Fälle betreffen die Sekundärstufe, also Schüler im Alter zwischen 14 und 16 Jahre. In der Mittelstufe (elf bis 14 Jahre) sind es fast genauso viele, aber auch die Primarstufe (sechs bis elf Jahre) ist betroffen. »Das erschreckt mich am meisten. Bei den Kleinsten sind solche Fälle normalerweise sehr selten. Aber jetzt ... wir werden nun eine Arbeitsgruppe einrichten, in der alle Institutionen an einem Strang ziehen«, betont de Luzenberger.

Cesare Moreno beschäftigt sich schon seit etlichen Jahren mit dem Problem der »Schulflucht«. Er ist Vorsitzender der Vereinigung der »Straßenlehrer« von Neapel, also von Lehrkräften, die vor Ort Kinder ausfindig machen, die nicht in die Schule gehen - oft weil sie arbeiten müssen, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Die »Straßenlehrer« in der süditalienischen Stadt versuchen, gemeinsam mit den Kindern und deren Familien für das Problem der Schulflucht individuelle Lösungen zu finden.

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Dabei unterrichten sie manchmal auch auf der Straße. »Leider müssen wir davon ausgehen, dass die auch so schon fürchterlichen Zahlen noch weit hinter der Realität zurückliegen«, sagt Moreno. »Wir würden sagen, dass es heute drei mal so viele ›Schulflüchtige‹ als noch vor einem Jahr gibt. Zum ersten Mal nach langer Zeit betrifft dieses Phänomen jetzt auch die ganz Kleinen. Das macht uns Angst!«

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