Tode durch strukturelle Gewalt

Kampagne »Death in Custody«: 183 nichtweiße Menschen seit 1990 staatlicher »Obhut« ums Leben gekommen

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Spätestens seit den Massenprotesten der Black-Lives-Matter-Bewegung vom vergangenen Sommer wird auch in Deutschland über Polizeigewalt und institutionellen Rassismus diskutiert. Dass ein Jahr später die Notwendigkeit für eine kritische Auseinandersetzung nach wie vor gegeben ist, zeigt nicht zuletzt eine aktuelle Recherche des Kampagnenbündnis »Death in Custody« (Tod in Gewahrsam).

Die Aktivisten gehen demnach derzeit von 183 Todesfällen von Schwarzen Menschen, sogenannten People of Color und von Rassismus betroffenen Personen in »staatlicher Obhut« in Deutschland seit 1990 aus. Ende Mai 2020 hatten sie noch 159 Betroffene aufgelistet.

Aktuelle Beispiele sind laut dem Bündnis etwa der Fall von Qosay Sadam K., der im Alter von 19 Jahren im März bei einem Polizeieinsatz in Delmenhorst getötet wurde. Eingegangen wird ebenfalls auf einen 35-Jährigen, der ebenfalls im März in Weil im Schönbuch im Zuge eines Polizeieinsatzes verstarb. Auch der Fall von Ferhat M., der am 23. Juli 2020 durch einen Zellenbrand in der JVA Berlin-Moabit ums Leben kam, wird erwähnt. Laut der Kampagne soll es in diesem Frühjahr zu Schikanen gegen zwei Mithäftlinge von M. gekommen sein, die sich für die Aufklärung seiner Todesumstände einsetzten.

Das Recherchebündnis hatte sich im Herbst 2019 gegründet, die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung gaben der Kampagne jedoch einen wichtigen Schub. »Plötzlich gab es Gehör und Legitimität, das Problem institutionalisierter rassistischer Gewalt an die Öffentlichkeit zu bringen«, teilte das Bündnis mit. In der Regel würden Betroffene von Polizeigewalt, ihre Angehörigen, Freunde und Unterstützer »kriminalisiert und das Thema systematisch unterdrückt«.

Datengrundlage für die Auflistung der Todesfälle sind unter anderem Berichte des Europäischen Rats und des Ministeriums für Justiz, Medienbeiträge sowie Dokumentationen von antirassistischen und Bürgerrechtsinitiativen. »Death in Custody« geht bei seiner Auswertung dabei von einem eher breiten Verständnis von »Gewahrsam« aus, viele Fälle wurden von den Behörden anders eingeordnet.

Um in die Definition der Kampagne zu fallen, muss der »staatliche Gewaltapparat« für den Tod des Betroffenen eine »ursächliche Rolle« gespielt haben. Dies sei für das Bündnis selbst bei offiziellen Suizidfällen gegeben, da Gefangene in repressiven Institutionen keine freien Entscheidungen treffen könnten. Die Aktivisten weisen daraufhin, dass Angaben der Behörden generell nicht vertraut werden könne.

Die gesellschaftliche Aufgabe bestehe laut »Death in Custody« darin, struktureller Polizeigewalt »unermüdlich« entgegenzutreten. »Neben konkreten Maßnahmen zum Schutz von Betroffenen in Gewahrsamseinrichtungen sind deshalb abolitionistische Perspektiven, wie sie im Rahmen von Black Lives Matter zunehmend diskutiert werden, von großer Bedeutung«, erklären die Aktivisten. Es gehe so nicht nur um »externe, unabhängige und effektive« Kontrolle der Polizei, sondern auch langfristig um einen Mittelenzug der Institution beziehungsweise ihre Ersetzung durch gewaltfreie Konfliktbearbeitung.

»Death in Custody« betont diesbezüglich die Stärke der Black-Lives-Matter-Bewegung, weist jedoch darauf hin, dass bei Bezugnahmen auch der europäische Kontext von Aktivisten beachtet werden müsse. »Angesichts der Gewalt des EU-Migrationsregimes mit Inhaftierungen von Flüchtenden in Lagern und Gefängnissen sowie dem Sterbenlassen entlang der EU-Grenzen ist die Anknüpfung an Bündnisse und Solidaritätsstrukturen im Globalen Süden äußerst dringlich.«

Neue Fragen ergeben sich derweil im Fall des unschuldig inhaftierten Syrers Amad A. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte jüngst Berichten widersprochen, wonach Daten über den verstorbenen Schutzsuchenden unwiderruflich gelöscht worden seien. Tatsächlich stünden dem Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zu dem Fall alle relevanten Daten weiter zur Verfügung, sagte Reul während einer Fragestunde des Landesparlaments.

Die Daten seien demnach nur in den Datenbanken des Bundes gelöscht worden, weil dies dort zwei Jahre nach dem Sterbedatum automatisch geschehe. In der polizeilichen Datenbank des Landes habe jedoch ein Lösch-Moratorium vom Dezember 2018 gegriffen.

Mitte Mai war berichtet worden, dass in dem Fall Originaldaten des Fahndungssystems der Polizei entgegen offizieller Anordnung gelöscht worden seien. Die Anwälte der Eltern von Amad A. hatten deswegen Strafanzeige erstattet. A. war wegen eines Haftbefehls eingesperrt worden, mit dem nach dem Schwarzen Amedy G. gesucht worden war. Amad A. hatte so wochenlang in Kleve unschuldig im Gefängnis gesessen. Schließlich soll er in seiner Zelle selbst Feuer gelegt haben - Brandgutachten und Aussagen von Mithäftlingen werfen hier jedoch Fragen auf. Bei dem Feuer erlitt der 26-Jährige so schwere Verbrennungen, dass er im September 2018 in einer Klinik starb.

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Ein Fall aus Berlin

Der Fall beschäftigt noch immer einen Untersuchungsausschuss des Landtags. CDU und FDP hatten jüngst angekündigt, einen unabhängigen Gutachter einzuschalten. Ein Experte soll die Abfrageergebnisse in den Datenbanken der Polizei untersuchen und prüfen, ob es zu Manipulationen am Datenbestand gekommen sein kann.

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