Der andere Pflegeskandal

Die Bundesregierung will die Altenpflege verbessern. Mit den jetzt vorgelegten Vorschlägen wird das kaum gelingen. Dabei hatte die Große Koalition schon einmal einen viel besseren Plan

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 6 Min.

Fragwürdig, unpopulär, grundfalsch: Das Vorhaben der Bundesregierung, den Pflegebeitrag für Personen ohne Kinder zu erhöhen, hat diese Woche für mächtig Wirbel gesorgt. Nicht in die Schlagzeilen geschafft hat es die Tatsache, dass Millionen Besserverdienende und Staatsbedienstete keinen Zuschlag zahlen müssen. Denn sie sind privat versichert. Dabei ist ein Blick auf diesen Versicherungszweig nützlich, wenn man die Altenpflege tatsächlich verbessern möchte.

Damit alte, hilfebedürftige Menschen gut betreut und Pflegekräfte nicht völlig überlastet werden, braucht es mehr Personal. Die Große Koalition hat darum bereits 2018 13 000 zusätzliche Vollzeitstellen bewilligt. Bis Ende 2020 waren allerdings erst 2800 Stellen besetzt. Mittlerweile wurden weitere Finanzierungsmöglichkeiten geschaffen, so dass sich der mögliche Personalaufbau nunmehr auf insgesamt 44 000 Stellen bis Juli beläuft, erläutert der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Die Politik hat damit teilweise seine Vorschläge umgesetzt. Zusätzlich sollen die Löhne für Pflegekräfte steigen. Darum hat die Regierung jetzt beschlossen, dass die Menschen künftig nach Tarif bezahlt werden sollen (siehe Infobox).

Der Beschluss der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat sich am Mittwoch auf neue Vorgaben in der Altenpflege verständigt, über die im Juni der Bundestag beraten soll.

Tariflöhne als Ziel: Ab September 2022 sollen Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlt werden oder nach kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen, die derzeit für Caritas- und Diakonie-Beschäftigte gelten. Einrichtungen, die nicht tarifgebunden sind, sollen bestehende Tariflöhne übernehmen. In dem Gesetzentwurf ist nur von Pflege- und Betreuungskräften die Rede. Für Beschäftigte wie Köche oder Reinigungskräfte in Altersheimen soll die Tarifpflicht offenbar nicht gelten. Ob durch die Regelung die Gehälter steigen, ist laut Verdi ungewiss. Möglich seien Gefälligkeitstarifverträge von Pseudogewerkschaften. Zudem ist Verdi selbst in der Altenpflege schwach.

Tatsächliche Gehälter: In der Altenpflege arbeiten rund 1,2 Millionen Menschen, nur 35 Prozent haben eine volle Stelle. Aufgeschlüsselte Gehaltsdaten gibt es nur nur für Vollzeitbeschäftigte, sie zeigen große Unterschiede. So erhielten Fachkräfte in Sachsen-Anhalt 2019 im Mittel 2530 Euro brutto im Monat, so das Institut IAB. In Baden-Württemberg waren es 3330 Euro.

Geld von Pflegebedürftigen: Derzeit zahlen pflegebedürftige Menschen in Heimen im Durchschnitt einen Eigenanteil von rund 900 Euro für die Pflege- und Ausbildungskosten. Künftig sollen sie Zuschüsse erhalten: Im ersten Jahr fünf Prozent, ab dem zweiten Jahr 25, ab dem dritten 45 und ab dem vierten Jahr 70 Prozent. Für den Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang ist dieses Zuschussmodell ein »Irrweg«, weil die Eigenanteile dennoch steigen werden - gerade dann, wenn die Kosten aufgrund des geplanten Personalaufbaus und höherer Löhne steigen. Ein Schutz vor Verarmung könne so nicht gewährleistet werden. Er plädiert für einen festen Deckel. Einen solchen mit einem maximalen Eigenanteil von 700 Euro im Monat für höchstens 36 Monate hatte das Gesundheitsministerium zunächst geplant.

Sozialbeiträge und Steuern: Die Beiträge für gesetzlich Versicherte, die keine Kinder haben, sollen um 0,1 Prozentpunkte steigen - das sind maximal zusätzlich 4,84 Euro pro Monat bei einem Bruttolohn von mindestens 4838 Euro. Außerdem ist ein Steuerzuschuss von eine Milliarde Euro geplant. rt

Mehr Personal - und wer zahlt?

Mehr Personal und höhere Löhne - das erfordert zusätzliche Finanzmittel, die irgendwo herkommen müssen. Von Pflegebedürftigen mehr Geld zu verlangen, widerspricht der Idee der Sozialen Pflegeversicherung. Sie wurde eingeführt, um die Verarmung von hilfebedürftigen Menschen zu verhindern. Damit dies gelingt, soll die Versicherung in der Regel die pflegebedingten Aufwendungen übernehmen.

Doch hier hakt es schon heute. Inzwischen beträgt der Eigenanteil, den Heimbewohner für Pflege- und Ausbildungskosten zahlen müssen, im Durchschnitt fast 900 Euro im Monat. Zusammen mit den Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten belaufen sich die monatlichen Eigenanteile im Bundesdurchschnitt auf über 2100 Euro. Viele haben das Geld nicht, darum sind rund ein Drittel der in Altenheimen lebenden Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. »Wird die Pflegeversicherung an den Zielen gemessen, um derentwillen sie eingeführt wurde, muss eine eklatante Zielverfehlung festgestellt werden«, bilanziert Rothgang. Auch die am Mittwoch beschlossenen Zuschüsse zu den Eigenanteilen würden die Situation nicht grundlegend verbessern.

Um die höheren Kosten in der Altenpflege zu finanzieren, will die Bundesregierung den Pflegebeitrag für Versicherte, die keine Kinder haben, um 0,1 Prozentpunkte anheben. Außerdem ist ein Steuerzuschuss von einer Milliarde Euro geplant.

Doch das reicht hinten und vorn nicht, um die höheren Kosten für eine gute Altenpflege zu decken, bemängeln die gesetzlichen Krankenkassen, die auch für die Soziale Pflegeversicherung zuständig sind. Der GKV-Spitzenverband schätzt, dass bereits im nächsten Jahr rund zwei Milliarden Euro fehlen. Nach der Bundestagswahl werde die neue Regierung »eine Reformbaustelle gewaltigen Ausmaßes erben«, erklärte der Vizechef des GKV-Spitzenverbands Gernot Kiefer.

Höhere Einkommen, geringere Kosten

Um eine gute Altenpflege zu finanzieren, könnten die Beiträge für alle oder der Steuerzuschuss erhöht werden. Der sozialpolitisch beste Weg wäre für Rothgang jedoch eine Bürgerversicherung. Denn derzeit sind die Risiken zwischen Privater und Sozialer Pflegeversicherung nach seinen Berechnungen extrem ungleich verteilt.

Privat versichert waren zuletzt gut neun Millionen Menschen. Es handelt sich dabei um Besserverdienende, deren Gehalt über der Beitragsbemessungsgrenze von 4838 Euro brutto pro Monat liegt, sowie um Beamtinnen und Beamte, Selbstständige und ihre Kinder. Die Beitragshöhe richtet sich hier nach dem Eintrittsalter und dem individuellen Pflegerisiko bei Vertragsschluss.

Die Ausgaben der Privaten Pflegeversicherungen sind laut Rothgang pro versicherter Person nicht einmal halb so hoch wie in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV). Dabei hat der Gesundheitsökonom berücksichtigt, dass bei Beamten die Privatversicherung nur einen Teil der Kosten übernimmt, den anderen Teil trägt die sogenannte Beihilfe.

Ein Grund für die niedrigeren Kosten: Privat versichert sind viel mehr Männer (4,7 Millionen) als Frauen (drei Millionen). Und Männer verursachen laut Rothgang geringere Kosten, insbesondere, weil Frauen ihre Partner länger pflegen als Männer ihre Partnerinnen. Hinzu kommt, dass Frauen im Schnitt länger leben.

Gleichzeitig ist das durchschnittliche Gesamteinkommen der Privatversicherten doppelt so hoch wie das der Menschen in der SPV, wenn man neben den Gehältern auch Kapitaleinkünfte berücksichtigt. Betrachtet man nur das Erwerbseinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze, bis zu der Sozialabgaben erhoben werden, beträgt das Plus immer noch 60 Prozent.

In den Privatkassen sind also einerseits die Pflegekosten pro Versicherten niedriger. Andererseits haben die Mitglieder höhere Einkommen. Was das konkret bedeutet, macht Rothgang mit folgender Berechnung deutlich: Angenommen, für die Gruppe der Privatversicherten würden die Regeln der SVP gelten. Dann wäre ein Pflegebeitrag von unter einem Prozent ausreichend, um die Kosten zu decken. Er wäre damit um den Faktor 3,7 niedriger als der derzeit geltende Pflegebeitrag. Dieser liegt bei 3,05 Prozent des Bruttolohns bzw. 3,3 Prozent für Beschäftigte ohne Kinder.

Weniger Hürden für Bürgerversicherung

Daraus folgt: Wenn man die privat Versicherten in die Soziale Pflegeversicherung einbezieht, verbessert das die Finanzlage doppelt. Einerseits verursacht diese Gruppe relativ geringe Kosten. Andererseits zahlt sie relativ hohe Beiträge, weil sie hohe Gehälter hat. Bei einem Bruttolohn von 4800 Euro fließen mindestens 146 Euro pro Monat in die Pflegekasse, bei 3000 Euro sind es lediglich 91,50 Euro.

Mit einer solchen Bürgerversicherung und einem begrenzten Steuerzuschuss könnten die Eigenanteile für Pflegebedürftige gedeckelt und gleichzeitig höhere Personalkosten finanziert werden, so Rothgang. Eine Beitragserhöhung wäre nicht nötig.

Die beiden Versicherungszweige zusammenzulegen, ist relativ einfach. Denn die Leistungen sind im Wesentlichen gleich. Zudem dürfen Altenheime von den Privatversicherungsunternehmen nicht mehr Geld verlangen. Bei der Krankenversicherung ist eine Zusammenlegung dagegen komplizierter, nicht zuletzt, weil Ärzte für die Behandlung von Privatpatienten mehr Geld verlangen können.

Möglich wäre auch ein Finanzausgleich zwischen Sozialer und Privater Pflegeversicherung, betont Rothgang. Genau das hat Schwarz-Rot schon einmal vereinbart. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2005 steht: »Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt.« Umgesetzt hat die Koalition das Vorhaben dann doch nicht.

16 Jahre und eine Pandemie später sind die Not von vielen Pflegebedürftigen und die Belastung der Beschäftigten größer als damals und die öffentliche Debatte breiter. Rothgang ist nicht zuletzt deshalb überzeugt: Nach der Bundestagswahl wird eine neue Regierung eine Finanzreform angehen müssen. Welchen Weg sie einschlägt, ob sie beispielsweise eine Versicherung für alle anstrebt oder stärker auf die private Vorsorge setzt, wird von den gewählten Parteien abhängen.

Eine Bürgerversicherung oder als kleine Lösung der Finanzausgleich würde jedenfalls dazu führen, dass Besserverdienende mehr für die Altenpflege zahlen, sagt Rothgang: »Die Schwachen profitieren, die Starken zahlen.«

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