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Sozialstaat: Was wir uns leisten können
Sozialleistungen seien nicht mehr finanzierbar, heißt es. Doch zu Kürzungen gibt es Alternativen
In der aktuellen Debatte werden steigende Sozialausgaben per se als Problem dargestellt – von der Union, Arbeitgebern, einflussreichen Ökonom*innen und Medien wie dem »Handelsblatt«, das die Sozialsysteme »vor dem Kipppunkt« wähnt. Man kann es indes auch anders sehen: Sozialleistungen sollen Probleme vermeiden und gerade Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter finanziell absichern und vor Armut bewahren. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage: Wie kann die soziale Absicherung finanziert werden, ohne ausgerechnet Beschäftigte, die kein Topgehalt haben, besonders stark zu belasten? Vorschläge dazu liegen vor.
Die Ökonomin Heike Joebges plädiert dafür, Sozialleistungen stärker über Steuermittel zu finanzieren. »Die demografische Entwicklung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Darum ist es sinnvoll, den Steuerzuschuss für die Rentenversicherung vorübergehend zu erhöhen«, sagt die Forscherin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin gegenüber »nd.DieWoche«. Der staatliche Zuschuss könne vorübergehend steigen, solange Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen in Rente sind, und dann wieder abgeschmolzen werden. Auf diese Weise ließe sich der Rentenbeitrag, den Beschäftigte und Arbeitgeber zahlen, stabilisieren.
Kürzungen sind kein Sachzwang
Der Anstieg der Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenkassen könne gebremst werden, wenn die Zweiteilung in eine gesetzliche und private Versicherung hierzulande aufgehoben wird, die im europäischen Vergleich einmalig sei, betont der Sozialforscher Gerhard Bäcker. Die bislang begünstigten Besserverdienenden, die zudem ein oft geringeres Krankheitsrisiko aufweisen, würden dann in den Solidarverbund aufgenommen. Diese Umstellung würde einige Zeit dauern, aber die Tabuisierung dieser Forderung sei nicht länger begründbar, so der Forscher. Kurzfristig sehen Wissenschaftler wie Bäcker sowie Krankenkassen auch Einsparmöglichkeiten im Gesundheitswesen, etwa bei den Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel oder durch das Vermeiden von Doppeluntersuchungen.
Eine Bürgerversicherung in einem oder mehreren Versicherungszweigen wird seit Langem gefordert, etliche Sozialforscher*innen befürworten sie ebenso wie SPD, Grüne und Linkspartei. Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) hat sie erst im Frühjahr für die Rentenversicherung vorgeschlagen – doch die CDU reagierte ablehnend. Im Koalitionsvertrag hat sich Schwarz-Rot denn auch keine umfassende Bürgerversicherung vorgenommen. Immerhin sollen neue Selbstständige ohne anderweitige obligatorische Alterssicherung in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden.
Kapitaleinkommen stärker besteuern
Dabei wäre eine Bürgerversicherung in der Pflege besonders einfach umzusetzen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang kam zu dem Ergebnis, dass dadurch der Beitragssatz sinken würde. Möglich wäre auch eine Bürgervollversicherung, bei der Pflegebedürftige im Heim nicht mehr hohe Summen für die Pflegekosten selbst bezahlen müssten. Beschäftigte mit einem Bruttoeinkommen von 4500 Euro müssten demnach im ersten Jahr gerade mal vier Euro pro Monat mehr als Abgabe entrichten.
Neben dem demografischen Wandel müssten auch weitere Herausforderungen wie beispielsweise die Anpassung an den Klimawandel finanziert werden, sagt Joebges. Daher sollte der Gesetzgeber Kapitaleinkommen und große Erbschaften wieder stärker besteuern, er könnte auch eine Sonderabgabe auf Vermögen erheben. »Besserverdienende müssen mehr zahlen. Sie können das, und der Staat braucht Kapazitäten, um seine vielfältigen Aufgaben bewältigen zu können«, betont die Ökonomin. »Ich weiß nicht, wie das ohne Steuererhöhungen gehen soll, wenn die Verschuldung nicht stärker steigen soll.«
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