Der will nur spielen

Vor 25 Jahren erschuf Beck mit »Odelay« das Album, das die 90er Jahre auf den Punkt brachte

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir müssen über die 90er reden. Jenes Jahrzehnt, in dem frei nach Bertolt Brecht galt: »Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat.« Es war die Zeit, als Menschen, die wie Popstars wirkten, Präsident wurden. Man mochte Bill Clinton vieles nachsagen, Heldenmut gehörte nicht dazu.

Auch in der Musikwelt war es mit Heroismus nicht weit her. Noch in den 80ern hatte es in Rock-, Pop- und Rap-Land von Helden gewimmelt. Bruce Springsteen hatte die Ehre des amerikanischen Arbeiters gerettet, Madonna unter vollem Körpereinsatz den Feminismus gepusht und Public Enemy den schwarzen Befreiungskampf neu entfacht. Stars wie Bono oder Prince füllten bereitwillig die Rolle der öffentlichen Person aus, die »larger than life« war.

Damit machten die 90er Schluss. Als Freddie Mercury, die Rampensau, starb, trat an seine Stelle ein Typus von Star, der das Gegenteil verkörperte: Kurt Cobain, das Idol, das kein Idol sein wollte. Als er sich 1994 ein Gewehr in den Mund steckte, kletterte das Lied eines gewissen Beck David Hansen gerade die Charts hoch. Die Zeilen, »I'm a loser, baby, so why don't you kill me?«, hätte auch Cobain singen können.

Doch er hätte sie anders verstanden als Beck. Denn diesen plagten keine Suizidgedanken. Er habe die Aussage, ein Verlierer zu sein, nur ironisch gemeint, stellte er klar. Ironie? Das hatte man in den 80ern nicht gekannt. Wer Synthiepop mochte, disqualifizierte sich als »Popper«. Wer Dark Wave zusprach, musste mit dem Brandzeichen »Grufti« leben. Jene legendäre »Blues Brothers«-Szene, in der eine Barbesitzerin stolz verkündet, »Wir haben beides: Country UND Western«, zeigt, wie stark Musikgenres als Distinktionsmerkmal funktionierten.

Es waren HipHop-Künstler, die diese Trennung aufweichten. In ihre Rap-Songs bauten sie Samples ein; Ausschnitte aus Liedern und Filmdialogen, manchmal auch nur simple Geräusche. Einen Dammbruch markierte 1989 das Debütalbum von De La Soul »3 Feet High And Rising«, das - statt der üblichen James-Brown-Japser - mit Auszügen von Steely Dan, Johnny Cash und den Beatles aufwartete. Noch radikaler gingen kurz darauf die Beastie Boys zu Werke. In den 15 Stücken von »Paul’s Boutique« brachten sie mithilfe des Produzentenduos Dust Brothers das Kunststück fertig, Samples aus 105 Songs unterzubringen. 1992 erschwerte die Entscheidung eines US-Bundesgerichts solche Schnippel-Exzesse. Es mussten nun Copyright-Freigaben erfolgen. Das konnte langwierig und teuer werden.

Doch wie so oft hatte die prozessierwütige Plattenindustrie einen Pyrrhussieg errungen. In seiner Studie »Sampling in der Musikproduktion« beschreibt der Soziologe und DJ Georg Fischer, wie Produzenten diese Hürde umgehen können: Das gewünschte Sample wird einfach in Tonstudios nachgespielt - was erlaubt ist. Indem man es zusätzlich verfremdet, z.B. durch Geräusche und eine andere Geschwindigkeit, ist es den Uploadfiltern von Plattformen wie YouTube unmöglich, die musikalische Quelle zu erkennen und die gesampelte Version zu löschen. So fördert eine verschärfte Rechtslage die »Umgehungskreativität«.

Diese Kunst des Gestaltwechsels haben Beck und die Dust Brothers zur Meisterschaft gebracht. Mit »Odelay« setzten sich die drei vor 25 Jahren ein Denkmal. Es ist ein Album, das vertraut und fremd zugleich klingt. Man glaubt, Hunderte von Sound-Schnipseln aus irgendwann mal gehörten Songs wahrzunehmen, ohne sie zuordnen zu können. Da ist alles dabei, vom 60er-Beat-Riff über die 70er-Soul-Orgel bis zum 80er-Oldschool-Scratch.

Die Videos der Singles »Where it’s at« und »The new pollution« unterstreichen diesen Eindruck optisch, indem sie die Entertainment-Welt früherer Jahrzehnte nachstellen. Wenn Beck in »Devils haircut« mit Cowboyhut durch die Straßen New Yorks tigert, ist das eine Anspielung auf den New-Hollywood-Klassiker »Asphalt-Cowboy« (1969). Selbst das Plattencover ist ein Verweis auf vergangene Zeiten; das Foto erschien 1977 in der Mitgliederzeitschrift des US-Hundezüchterverbands.

»Cool«, denkt man, »hier kennt jemand die Populärkultur!« Kein Wunder, Beck wuchs inmitten von Künstlern auf. Die Großmutter Audrey Ostlin Hansen. war Dichterin, der Großvater Al Hansen gehörte der Fluxus-Bewegung an und war mit Yoko Ono befreundet. Die Mutter Bibbe Hansen half als Teenagerin Andy Warhol bei seinen Siebdrucken und spielte in seinen Filmen mit. Der Vater David Campbell war Komponist. So bekam Beck die Bohème in die Wiege gelegt.

Doch liegt in diesem L'art pour l'art vermutlich der Grund, warum viele seiner Alben, selbst das brillante »Odelay«, einen seltsam kaltlassen. Sein Verhältnis zur Popkultur ist das eines Supermarktbesuchers beim Großeinkauf. Da wird alles reingepackt, was in den Wagen passt. Alles ist gleich wichtig und damit unwichtig. Das kulturelle Erbe wird zur reinen Zitiermasse.

Diese Haltung aber macht Beck zum prototypischen Künstler der 90er. Seinerzeit wähnte man alle Ideologien überwunden. Es schien nichts mehr zu geben, wofür es sich heldenhaft zu kämpfen lohnte. Was die meisten jungen Menschen nicht weiter störte - das »Ende der Geschichte«, wie manche im Westen den Zusammenbruch des Ostens nannten, war der Anfang der Party.

Bis uns aus heiterem Himmel, am 11. September 2001, vor Augen geführt wurde, dass es Menschen gab, die die Welt sehr wohl ernst nahmen. Todernst. Denen nicht der Sinn nach postmoderner Ironie stand, sondern nach archaischem Märtyrertum. Ein Jahr später erschien Becks »Sea Change«, eine schwermütige Folkplatte mit Zeilen wie diesen: »Ertrinken, ertrinken. Seemänner laufen auf Grund. Wenn sich das Meer verändert, ist nichts mehr sicher.« Das Album enthielt kein einziges Sample.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal