Eine komplizierte Liebe

Begegnung auf Augenhöhe: Carsten Gansel geht der deutsch-russischen Literaturbeziehung nach

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt diese schöne Wendung, dass man Russland nicht verstehen, sondern nur lieben könne. Wörtlich genommen bedeutet das, »der Russe« ein irrational denkendes und handelndes Wesen sei, das von wilden Trieben getrieben, irgendetwas treibt, was so ganz anders ist als das, was die aufgeklärte Restmenschheit tut.

Der Abendlanduntergangsprophet Oswald Spengler war, wie viele seiner konservativen Zeitgenossen, so ein Freund romantischer Russlandverklärung, die mit der Ausrufung der Moderne in einen Russlandhass umschlug, der paradoxerweise oft in eins mit der Anerkennung für den autoritären russischen Staat ging. Ein seltsames Amalgam, dass in weiten Kreisen der nichtlesenden Bevölkerung bis heute verbreitet zu sein scheint, in den 70er und 80er Jahren zur Popularität des Münchner Disko-Monsters Dschingis Khan (»Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand«) führte und heute deutsche Rechtsextreme »Putin, rette uns!« skandieren lässt. »Die Russen« - russlanddeutsche Übersiedler oder Exilrussen - stehen hierzulande hingegen oft auf der untersten Stufe der Wertschätzungsskala und erfahren Diskriminierung und Hass. Im besten Fall liebt »der Russe« (in Russland) Birken und ist noch nicht reif für die Demokratie. Es ist so beschämend, dieses Bild.

Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, mit der Revolution 1917, die nicht nur eine soziale war, sondern die schöpferischen Kräfte des Menschen entfesseln und die alte, verfaulte Welt aus den Angeln heben sollte. An die Stelle der Alleinherrschaft oder der parlamentarisch verwalteten Klassengesellschaft sollte die Macht der Räte, die gelebte Basisdemokratie treten. Hier setzt der von Carsten Gansel herausgegebene Band »Deutschland und Russland - Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte« ein, dessen 613 Seiten durch ihre bloße Existenz konstatieren, dass es nicht einfach wird. Fast wie in einer langen Ehe. Jürgen Lehmann gibt dazu die Vorgeschichte dieser komplizierten Liebe, von den ersten Übersetzungen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Euphorie ab 1885, als die russische Literatur ob ihrer Tiefe, sozialkritischen Analyse und formalen Innovation die deutsche Bücherhitparade eroberte. Vorbehaltlos angenommen wurde sie dennoch nicht. Zu fremd schien das Land, in dem trotz der noch unter der Zarenherrschaft forcierten (europäischen) Modernisierung das »barbarische asiatische Gesicht« hervorlugen sollte, dem Karl Marx - in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse - »asiatische«, d. h. rückständige Produktionsweisen bescheinigte. Das Ende des Ersten Weltkrieges forcierte dann den deutsch-russischen Kulturaustausch: allein durch die schiere Zahl der Migranten, die vor Hunger und Bürgerkrieg flohen, wie auch die Offenheit der Zukunft - im positiven wie negativen Sinn.

Werner Nell beschreibt unter dem Titel »Eskapismus in den Abgrund« das Balancieren auf der Rasierklinge, das insbesondere jüdische Schriftsteller als Überlebenstechnik absolvieren mussten. Exemplarisch dafür stehen Essad Bey alias Lew Nussenbaum und Ilja Ehrenburg, die aus unterschiedlichen Positionen heraus durch ihre Romane und Reportagen in Deutschland berühmt wurden. Essad Bey ist fast vergessen. Ehrenburg, als strikter Antifaschist geschmäht und als strikter Antistalinist zensiert und bedroht, wurde hingegen in der DDR dank des Einsatzes des Literaturwissenschaftlers und Herausgebers Ralf Schröder mit einer umfangreichen Werkausgabe im kulturellen Gedächtnis verankert. 2016 wurde sein Schlüsselwerk »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« in der »Anderen Bibliothek« wiederveröffentlicht. Würde gleiches seiner Autobiografie in sieben Büchern »Menschen. Leben. Jahre« (vollständig bis 1972 bei Kindler erschienen, ab 1978 bis 1990 bei Volk & Welt) widerfahren, wäre das ein Glücksfall.

Sowjetrussische Literatur boomte in der Weimarer Republik, und deutsche Schriftsteller wie Walter Benjamin reisten nach Russland. Sehr wohl bemerkten sie in der rasanten Modernisierung die Wiederkehr des Provinzialismus und den aufziehenden Bonapartismus, der im Großen Terror mündete und der Union endgültig die Räte austrieb. Die Skepsis wurde zur Verzweiflung, als mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 das letzte Bollwerk gegen die europäische Barbarei fiel. Mit dramatischen Folgen: Deutsche Kommunisten wurden abgeschoben, saßen als misstrauisch beäugte Exilanten im Moskauer Hotel Lux oder endeten im Gulag. Die 1924 gegründete Republik der Wolgadeutschen wurde aufgelöst, ihre Bürger deportiert. Carsten Gansel beschreibt die Rekonstruktion des vernichteten Großromans »Wir selbst« von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der erst mit der Perestroika wieder zugänglich gemacht wurde und seit 2020 in deutscher Übersetzung (Galiani Verlag) vorliegt.

Das bittere Ende der Utopie an der Wolga und deren Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis lässt sich bei Herold Belger in »Das Haus des Heimatlosen« (Schiler Verlag 2010) nachlesen. Überaus spannend, zugleich ernüchternd, lesen sich die Geschichte des Deutschen Dienstes von Radio Moskau, des Nationalkomitees Freies Deutschland und des Bundes Deutscher Offiziere sowie deren literarischer Verarbeitung in der Nachkriegszeit in Ost und West. Werksrezeptionen, etwa von Gladkow und Tretjakow (dessen operaistischer Literaturbegriff Schriftsteller von Brecht, Bredel, Ottwald bis Annett Gröschner beeinflusste), eine Analyse der geheimdienstlichen Literaturarbeit und organisierter Schriftstellerreisen, »verschwundenen Erinnerung« und das Erzählen von Tschernobyl von Christa Wolf bis Christian Kracht folgen - zu viel, um hier auch nur ansatzweise darauf eingehen zu können.

Besonders hervorzuheben sind die Gespräche mit u. a. Jochen Laabs, Irina Liebmann, Waltraut Schälike und Gusel Jachina. Und selten sind Aufstieg und Fall der DDR-Slawistik so aufrichtig und charmant rapportiert worden wie von Anton Hiersche. Eine einzige Freude. Verunglückt muss man die politikwissenschaftlichen Ausführungen von Hauke Ritz zum »Petersburger Dialog« nennen, die arg an der Oberfläche schwimmen und den Meinungs-, nicht Forschungsstand vor zwanzig Jahren repetieren. Und zum Ende des Bandes hatte den Korrektor wohl die Kraft verlassen. Nichtsdestoweniger ist dieses vielstimmige und -perspektivische Buch zu loben. Denn weder glorifiziert noch verteufelt, erhöht oder erniedrigt es, sondern begegnet Russland auf Augenhöhe. So, wie man es unter Freunden tut. Jetzt bräuchte es noch einen Band, der sich der multinationalen Literaturgeschichte Russlands und der literarischen Produktion der letzten dreißig Jahre summarisch annimmt. Carsten Gansel, übernehmen Sie!

Carsten Gansel (Hg.): Deutschland und Russland - Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte. Verbrecher Verlag, 616 S., brosch., 39 €.

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