Die bisherige Ablehnung könnte sich ändern
rechtsstreit um berufskrankheit wegen erlittener Traumata
Die Bundesregierung und die gesetzlichen Unfallversicherungsträger dürfen bei der Anerkennung von Berufskrankheiten psychische Erkrankungen nicht ignorieren. Dies hat das Bundessozialgericht (Az. B 2 U 11/20) mit einem Beschluss vom 6. Mai 2021 klargestellt und einem an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkrankten, arbeitsunfähigen Rettungssanitäter Hoffnung auf Anerkennung seiner psychischen Erkrankung als Berufskrankheit und damit auch auf mögliche Rentenzahlungen gemacht.
Erstmals hat das BSG selbst eine Studie veranlasst, die die Frage klären soll, ob eine PTBS bei Rettungssanitätern häufiger auftritt als in der Allgemeinbevölkerung.
»Ein gewisser Signalwert«
Der Beschluss hat einen »gewissen Signalwert« für psychische Erkrankungen als Berufskrankheit, sagte der Vorsitzende Richter des 2. BSG-Senats, Wolfgang Spellbrink. Man habe ein »gewisses Misstrauen« gegenüber dem Unfallversicherungssystem, ob dieses psychische Erkrankungen als Berufskrankheiten als solche auch identifiziert.
Bei dem Kläger, einem früher beim Deutschen Roten Kreuz in Esslingen angestellten Rettungssanitäter, wurde 2016 nach einem Zusammenbruch eine PTBS diagnostiziert. Seitdem ist er arbeitsunfähig und leidet unter anderem an Depressionen. Ärzten zufolge geht die PTBS auf mehrere traumatische Rettungseinsätze zurück.
So musste der Mann 2009 nicht nur den Amoklauf an der Albertville Realschule in Winnenden und in Wendlingen miterleben, bei dem ein 17-Jähriger 15 Menschen und dann sich selbst erschossen hatte. 2014 wurde der Kläger zu einem Einsatz geschickt, bei dem eine Jugendliche sich selbst enthauptet hatte. Genau ein Jahr später tötete sich eine Freundin der Jugendlichen auf ähnlich grausame Weise. Auch hier wurde der Kläger als Rettungssanitäter eingesetzt.
Wie eine Berufskrankheit anzusehen
Die zuständige Unfallversicherung Bund und Bahn sah in der PTBS des Mannes keine Berufskrankheit. Es gebe keine gesicherten Erkenntnisse, dass eine PTBS bei Rettungssanitätern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich häufiger vorkommt.
Was als Berufskrankheit gilt, wird in einer von der Bundesregierung in der Berufskrankheitenverordnung geführten Liste aufgeführt. Ist eine Berufskrankheit darin noch nicht aufgeführt, kann eine sogenannte Wie-Berufskrankheit vorliegen, so dass die Liste um diese später ergänzt wird. Ein ehrenamtlich beim Ministerium für Arbeit und Soziales tätiger Ärztlicher Sachverständigenbeirat gibt hierzu Empfehlungen, was nach wissenschaftlichen Erkenntnissen »wie« eine Berufskrankheit anzusehen ist.
In der Liste der Berufskrankheiten sind psychische Erkrankungen noch gar nicht enthalten, erklärte das BSG. Die Anerkennung psychischer Erkrankungen - hier die PTBS - als »Wie-Berufskrankheit« habe der Sachverständigenbeirat bislang weder geprüft noch beabsichtigt er bisher eine Prüfung.
BSG-Richter rügt Sachverständige
Der Sachverständigenbeirat entscheide relativ zufällig, bei welchen Erkrankungen er Empfehlungen zur Aufnahme in der Berufskrankheiten-Liste abgeben will, rügte Wolfgang Spellbrink, Vorsitzender Richter des 2. Unfallversicherungssenats. »Es reicht nicht, die Hände in den Schoss zu legen« und als Unfallversicherungsträger auf den Sachverständigenbeirat zu verweisen, sagte BSG-Richter Hartwig Othmer.
Die Unfallversicherungsträger müssten bei der Frage, ob bestimmte Erkrankungen in einzelnen Berufsgruppen als Berufskrankheit anzusehen sind, mitwirken. Studien würden aber von der Unfallversicherung nicht veranlasst. Die Träger dürften nicht darauf verweisen, dass es bei fehlender Prüfung und Erkenntnisse die Berufskrankheit nicht gibt.
BSG veranlasst eine eigene Studie
Um die Frage zu klären, ob bei Rettungssanitätern eine PTBS generell gehäuft auftritt, hat nun das BSG das Verfahren vertagt und erstmals eine entsprechende Studie selbst veranlasst. Danach wird endgültig entschieden, ob diese psychische Erkrankung bei Rettungssanitätern wie eine Berufskrankheit anzuerkennen ist. Das BSG dürfe als Revisionsgericht zwar keine auf den Fall bezogenen individuellen Tatsachen feststellen. Dies sei Sache der Vorinstanzen. Allerdings dürfe das BSG generelle Tatsachen erheben, hier in Form einer Studie zu einer generellen Frage.
Mit der Frage, ob eine PTBS eine Berufserkrankung sein kann, hatte sich das BSG (Az. B 2 U 19/09) schon am 20. Juli 2010 im Fall eines Entwicklungshelfers beschäftigt. Der Mann wurde psychisch krank, nachdem er in Bürgerkriegsländern Westafrikas eingesetzt wurde. Das Gericht betonte, dass es nicht ausgeschlossen sei, wenn psychische, traumatisierende Einwirkungen eine Berufskrankheit verursachen könnten. Das BSG wies damals den Fall wegen formaler Verfahrensfehler wieder zurück. epd/nd
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