Unter dem Pflaster liegt Bullerbü

Nach drei Jahren Mobilitätsgesetz geht der Ausbau des Radnetzes langsam voran

  • Mischa Pfisterer und Aina Kaufmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Verkehrswende ist machbar: Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel (M.) beim Spatenstich für den neuen Radweg in der Weserstraße
Verkehrswende ist machbar: Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel (M.) beim Spatenstich für den neuen Radweg in der Weserstraße

Es sind über 30 Grad, als Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) am Montagmittag an der Kreuzung Weserstraße, Ecke Tellstraße stolz den Spaten für die längste Fahrradstraße Berlins in die Erde sticht. Bis 2024 sollen hier parallel zur Sonnenallee rund 2,5 Kilometer für Radfahrer*innen entstehen, die dadurch sicher und ungestört den Kiez durchqueren können. Das ist auch bitter nötig, immerhin hat sich die Zahl der im Berliner Stadtverkehr getöteten Radfahrer*innen 2020 mit 17 Toten verglichen mit dem Vorjahr fast verdreifacht. Der erste Bauabschnitt zwischen Pannierstraße und Fuldastraße soll bereits Ende des Jahres abgeschlossen werden.

3,7 Millionen Euro kostet die neue Fahrradstraße. Das Gros davon kommt mit 80 Prozent von der Senatsfinanzverwaltung, der Rest wird über das Städtebauförderungsprogramm »Lebendige Zentren« des Bundes finanziert. Damit sollen zusätzlich zum Straßenbau auch Bäume gepflanzt werden. Schließlich sollten Wohnquartiere für die Bewohner*innen da sein - und nicht nur für Autos, so Bezirksbürgermeister Hikel. Die neue Fahrradstraße diene nicht nur der Verkehrsberuhigung, sondern auch der Gleichberechtigung von Radfahrenden im Verkehr. So will es auch das Berliner Mobilitätsgesetz, das vor genau drei Jahren vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurde.

Ausgerechnet Hikels Amtsvorgängerin, die heutige SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey, hatte dagegen am Wochenende mit ihrem Verständnis von der Verkehrswende für einiges an Verwunderung gesorgt. »Berlin ist nicht Bullerbü« ließ sie einen Reporter der ZDF-Satiresendung »Heute-Show« wissen. So weit, so richtig. Allerdings fiel der Satz als Antwort auf die Frage, wie die Sicherheit der Radfahrer*innen im Berliner Straßenverkehr erhöht und der Ausbau der nötigen Infrastruktur vorangetrieben werden kann. Auch wenn Giffey ihre Unkenntnis charmant weglächelt, gibt sie zu, »dass bei den Radwegen ja noch Luft nach oben ist«.

Denis Petri, Vorsitzender des Vereins Changing Cities wird da deutlicher. »Das Berliner Abgeordnetenhaus hat zwar die Verkehrswende beschlossen, aber der Senat hat sie nie realisiert«, sagt Petri am Montag auf einer Pressekonferenz, auf der der Verein seine Bilanz zu drei Jahren Berliner Mobilitätsgesetz vorstellte. Diese sei »verheerend«. Der Senat missachte den Auftrag des Gesetzgebers, das Berliner Radverkehrsnetz bis 2030 auszubauen. So wurden im Jahr 2020 weniger als ein Prozent des Radwegenetzes fertiggestellt. Der Anteil des Radverkehrs allerdings ist innerhalb von fünf Jahren von 13 auf 18 Prozent gestiegen. Die Fahrradnutzung nahm während der Pandemie um bis zu 25 Prozent zu. Mit der Einrichtung von Pop-up-Fahrradwegen versuchte die Politik, dem gestiegenen Bedarf zu begegnen. Maßnahmen, die die Aktivist*innen von Changing Cities als »Fortschritt« ausdrücklich begrüßen.

Das Mobilitätsgesetz war 2018 bundesweit das erste seiner Art und sollte der Startschuss für die Verkehrswende in der Hauptstadt sein. Ohne die Aktivist*innen der Vorgängerinitiative Volksentscheid Fahrrad wäre es wohl nie in Kraft getreten. Über 100 000 Unterschriften sammelten diese für ein Volksbegehren. Bei den Verhandlungen zum Mobilitätsgesetz saßen sie mit am Tisch. Radverkehr ist allerdings nur ein Thema in dem am 28. Juni 2018 verabschiedeten Gesetz. Es soll ebenso Bus, Bahn und Fußverkehr stärken. Dadurch soll der Verkehr sicherer werden, gleichzeitig sollen mehr Menschen zum Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr oder das Fahrrad bewegt werden.

»Davon ist allerdings weder auf der Straße noch in der Verwaltung viel angekommen«, kritisieren die Aktivist*innen. »Im bisherigen Tempo würde der Berliner Senat bis zu 200 Jahre benötigen, um die Ziele des Gesetzes umzusetzen«, sagt Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen. Einen großen Anteil hätten dabei die Verantwortlichen, »die die Verwaltung nicht so führen, wie es für die Bedeutung der Aufgabe nötig wäre«. Das Führungspersonal habe weder den Geist des Mobilitätsgesetzes noch die Größe der Aufgabe verstanden.

»Wir haben in Berlin inzwischen viel erreicht, aber das reicht uns noch lange nicht«, sagt auch Harald Moritz, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus. »Wir sind ungeduldig und noch lange nicht fertig mit der Mobilitätswende in der Hauptstadt.« Man wolle dran bleiben an dem Thema - gegen alle Widerstände aus allen anderen Parteien und aus der Autolobby.

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