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Aus den Augen, aus dem Sinn

Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ist offiziell beendet. Ortskräfte sind weiterhin gefährdet

»Gestern haben die letzten Soldatinnen und Soldaten Afghanistan verlassen. Das ist nach 20 Jahren Einsatz ein bewegender Moment«, sagte die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Eva Högl (SPD), anlässlich des nun bekannt gewordenen Endes des deutschen Afghanistaneinsatzes.

Bis zuletzt war aus Sicherheitsgründen offiziell vom 4. Juli als Enddatum gesprochen worden. Nur markiert der Abend des 29. Juni 2021 das Ende eines fast eine Generation andauernden und höchst umstrittenen Einsatzes. In ihrer Bilanz blieb Högl einseitig. Sie erinnerte an 59 getötete Soldaten und dankte den rund 160 000 Soldat*innen, die im Laufe der Jahre an den Hindukusch kommandiert worden sind. Zahlen zu den zivilen Opfern des deutschen Einsatzes oder ein Gedenken an die bei einem Angriff auf entführte Tanklaster getöteten Afghan*innen sind nicht enthalten. Högl erneuerte jedoch ihre Forderung nach einer Enquetekommission im Parlament, um »eine kritische und ehrliche Bilanz« zu ziehen.

»Die angeblichen Fortschritte durch den Bundeswehreinsatz müssen klar hinterfragt werden«, bekräftigte Tobias Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion, im Gespräch mit »nd«. Die Linke fordert eine Aufarbeitung der geheimen Einsätze des Kommando Spezialkräfte KSK sowie der Tötung von Zivilisten beim Bombenabwurf auf zwei Tanklaster bei Kundus im Jahr 2009. »Wenn man sich die Begründungen von Gerhard Schröder und Joschka Fischer von 2001 durchliest, wird offensichtlich, dass die Bundeswehr-Einsätze ihr angebliches Ziel nicht erreicht haben«, erklärte Pflüger gegenüber »nd«.

Einen Komplettabzug aus Afghanistan wird es auch nach dem Ende des US-Einsatzes nicht geben. Die afghanischen Truppen scheinen weiterhin nicht in der Lage zu sein, die Sicherheit im Land zu garantieren. »Und es muss erklärt werden, warum man nun die militärische Infrastruktur am Flughafen in Kabul ausgerechnet an Länder wie die Türkei, Pakistan und Ungarn übergibt«, so Pflüger. Menschenrechtsorganisationen und Initiativen wiesen auf die weiterhin schwierige Lage der afghanischen Ortskräfte der Bundeswehr hin. Pro Asyl forderte, die Ortskräfte umgehend in Sicherheit zu bringen. Noch immer sei für die Betroffenen unklar, wie die deutsche Bundesregierung sie bei der Ausreise unterstützt. Wie die von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in der vergangenen Woche zugesicherte logistische Unterstützung aussehen könnte, ist angesichts des nun abgeschlossenen Abzugs unklar.

Mehrere Sprecher*innen der Bundesregierung waren am Mittwoch mit den Fragen der Journalist*innen in der Bundespressekonferenz konfrontiert. Die kaum praktikablen Prozedere bei der Antragsstellung stießen dabei auf Kritik. So arbeitete der Journalist Tilo Jung heraus, dass Ortskräfte, die in Masar-e-Sharif für die Bundeswehr gearbeitet haben, kaum die weite Reise nach Kabul unternehmen können, um sich in einem dort ansässigen Büro zu melden.

»Es wird Möglichkeiten geben«, wich die Bundeswehrsprecherin erneut aus. Sie verwies in der Frage nach den Kontaktbüros an das Auswärtige Amt. Eine konkrete logistische Unterstützung scheint derzeit offensichtlich nicht vorbereitet zu werden. Kurze Zeit später erhielt die Sprecherin eine Nachreichung und verkündete quasi im Nebensatz, dass die Unterstützung der Bundeswehr nun beendet sei und dass alles Weitere das Auswärtige Amt übernehmen müsse. Die Bundeswehr habe bei der Zuarbeit zu den Visaanträgen Hilfe geleistet. Für das Auswärtige Amt scheint die Reise durch das Krisen- und Kriegsgebiet allerdings zumutbar zu sein.

Das Mahnmal Hindukusch. Die Bundeswehr zieht ihre Truppen auf
Afghanistan ab - von Stabilität kann dennoch keine Rede sein.

Im Bundestag hatte die Linksfraktion versucht, in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses noch einmal über die Angriffe auf die Tanklaster und den Umgang mit zivilen Opfern zu sprechen. Der Tagesordnungspunkt wurde jedoch nicht zugelassen.

Zeitgleich mit Deutschland verließ auch das italienische Militär Afghanistan. »20 Jahre der nationalen Anstrengung gehen zu Ende«, so der italienische Verteidigungsminister Lorenzo Guerini. Er erinnerte an insgesamt 53 Tote und 723 Verwundete unter den italienischen Soldaten seit Beginn des Einsatzes 2001.

Politiker und Armeeangehörige in Afghanistan haben den Abzug der Bundeswehr bedauert. Nach 20 Jahren freundlicher Beziehungen sei es »wie einen guten Freund zu verlieren«, sagte General Khanullah Schudschah in Masar-e-Scharif. Die afghanische Parlamentarierin Fausia Hamidi kritisierte, dass Armee, aber auch viele Zivilisten den Schluss zögen, dass die Situation im Land so schlimm geworden sei, »dass uns alle alleine lassen«. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechterte sich seit Anfang Mai rapide. Rund 90 der etwa 400 Bezirke des Landes seien von den Taliban erobert worden.

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