Die vermisste Merkel

Auch Linke haben das Recht, der bald ehemaligen Kanzlerin nachzutrauern, meint Andreas Koristka

Nach tausendjähriger Kanzlerschaft endet bald die Amtszeit von Angela Merkel. Danach wird sie sich in ihr Haus in der Uckermark zurückziehen, wo sich die Kanzlerin a.D. in einer Zwischenwand verpuppen wird, um im nächsten Frühling als farbenprächtige Elder Stateswoman zu schlüpfen. So schön dieser Gedanke auch ist - Angela Merkel wird ein großes Loch in unseren Herzen und Seelen hinterlassen. Wir werden uns noch zu der Zeit ihrer Regentschaft zurücksehnen und jene Frau vermissen, die ihr Herz vielleicht nicht auf der Zunge trug, dafür die Mundwinkel in den Kniekehlen.

Dieses Land hat Angela Merkel allerhand zu verdanken. Merkel war es, die 2015 mit ihrer pragmatischen Art entgegen den Empfehlungen von Horst Seehofer und der »Bild« bewusst darauf verzichtete, alle männlichen Alleinreisenden an den deutschen Grenzen mit einer rostigen Laubsäge ohne Narkose entmannen zu lassen. Es war damals ein Akt gelebter Humanität, ein Fanal für die europäischen Werte, die freiheitlich-demokratische Grundordnung und den fachgerechten Gebrauch von Holzarbeitswerkzeugen.

Wäre Merkel nicht gewesen, wer hätte an ihrer Statt die großen Probleme der letzten 16 Jahre für uns aussitzen sollen? Ja, die Frage, was Merkel je für uns getan hat, ist durchaus berechtigt. Aber im ewigen Kanzlervergleich sticht diejenige hervor, die nichts unternimmt. Keine Hartz-IV-Einführung und kein Blitzkrieg gegen Frankreich fallen zu Merkels Lasten an. Das ist doch schon was!

Zum Vergleich: Wenn Gerhard Schröder damals nicht von ihr abgelöst worden wäre - wer weiß, ob er Usedom nicht schon längst an die Russen verkauft hätte und Sylt jetzt Carsten Maschmeyer gehören würde. Und ob er Griechenland in der Eurokrise nicht hätte bombardieren lassen. Wer garantiert uns, dass Armin Laschet nicht ähnlich gestrickt ist? Sicherlich, in Sachen Knuffigkeit steht er Merkel in nichts nach. Aber wie sieht es tief drinnen in ihm aus? Überdeckt sein niedliches Äußeres eine dunkle Seele? Hat er Laster, die über eine übertriebene Geltungssucht hinausgehen? Was kommt, wenn er der Sache nicht gewachsen sein wird? Löst Söder ihn ab? Oder Merz? Oder gar Gauland?

Bei Merkel wusste man immerhin, woran man war, egal ob man Max Mustermann oder Herbert Diess hieß. Sie war die Verlässlichkeit in Person. Zuletzt hatte sie das nötige Selbstvertrauen für das Amt. Manchmal wurde sie richtiggehend renitent. Die deutsche Regierungschefin verdrehte die Augen, wenn Putin etwas Dummes sagte. Zuletzt rümpfte sie sogar die Nase, wenn Trump in der Pressekonferenz gut vernehmbar einen fahren ließ. All das waren wahre Hits auf Youtube. Genauso wie ihr Zittern, das uns 2018 mitfühlen ließ. Warum musste dieses Zittern ausgerechnet der Frau passieren, die nichts auf der Welt mehr hasst, als sich zu bewegen und die sich deshalb sogar die Finger zur Raute zusammentackern ließ?

Wir wissen nach all den Jahren alles über diese Angela Merkel. Dass sie gerne Kartoffelsuppe kocht. Es wird uns bang, wenn wir uns fragen, wann Professor Sauer sie das letzte Mal zärtlich geküsst hat. Und umgekehrt weiß Angela Merkel auch alles über uns, denn sie hat die Umfragen gelesen. Merkel ist ein Teil von uns. Ihr Spitzname war nicht ohne Grund »Mutti«. Der »Vati« ist wahrscheinlich Joachim Löw. Und der ist auch nicht mehr im Amt. Beim Gedanken daran darf man sich ein bisschen alt fühlen, einsam und verlassen. Und man darf sentimental werden.

Ja, man wird Angela Merkel vermissen dürfen und müssen. Denn vermissen kommt von Mist und ist darüber hinaus menschlich. Und wer menschlich ist, darf sich nicht von irgendwelchen Fakten irritieren lassen. Egal, wie links man ist.

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