Flügelflitzer und Fanliebling

Raheem Sterling hatte es lange nicht leicht, jetzt prägt er das englische Spiel und führt das Team ins EM-Finale

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es muss nicht immer nur die eine Hymne sein. »Football’s Coming Home«, der von so viel Herzschmerz handelnde Kultsong, der zum englischen Fußball passt wie die Faust aufs Auge, hat ausgerechnet im Londoner Wembleystadion echte Konkurrenz bekommen. Denn den Protagonisten stehen neuerdings Tränen in den Augen, wenn »Sweet Caroline« von Neil Diamond erklingt. Das Lied aus dem Jahr 1969 feiert bei den englischen Spielen dieser Europameisterschaft ein sehr unverhofftes Comeback. Der schon nach dem Achtelfinale gegen Deutschland (2:0) einsetzende Rausch zu diesem Musikstück wurde am Mittwochabend beim Halbfinalsiege gegen Dänemark (2:1 nach Verlängerung) noch übertroffen. Und abermals besangen mehr als 60 000 Fans in dieser magischen Nacht auch wieder Raheem Sterling, den Erlöser von England. Der 26-Jährige ist der neue Liebling auf der Insel, der sein Team nahezu im Alleingang in das Endspiel am Sonntagabend an selber Stelle gegen Italien geführt hat.

Wenn ihm nicht Simon Kjaer mit einem Eigentor zuvorgekommen wäre, hätte er das Zuspiel Bukayo Saka in der 39. Minute locker zur Führung und damit zu seinem vierten Tor bei diesem Turnier verwandelt. Und auch am 2:1, einem von Kapitän Harry Kane in der 104. Minute der Verlängerung im Nachschuss verwandelten Elfmeter war der Offensivstar von Manchester City entscheidend beteiligt. Der 1,70-Meter-Mann hatte es in einem unwiderstehlichen Sololauf gleichh mit drei Dänen aufgenommen, wurde von Joakim Maehle leicht berührt - und Schiedsrichter Danny Makkelie zeigte sofort auf den Punkt. Aus dem Kontrollraum der Videoassistenten kam keine Nachricht, dass dies eine Fehlentscheidung war.

»Das war für einen Elfmeter nicht ausreichend. Raheem Sterling wollte den ziehen, er wollte ihn cheaten«, schimpfte zwar der ehemalige Schiedsrichter Manuel Gräfe später im ZDF-Studio. Zuvor, noch am Spielfeldrand, verwies der Gefoulte selbst darauf, dass es eben doch einen Kontakt gegeben habe. Ergo: Mal wieder war der Tempodribbler bei zwei Toren involviert. Wie schon beim 4:0 im Viertelfinale gegen die Ukraine. Mit einem schönen Steckpass vor dem 1:0 und einer Hackenablage vor dem 3:0, jeweils von Kane verwertet, hat der 26-Jährige auch schon im Stadio Olimpico von Rom seine brillante Verfassung bestätigt. Zuvor hatte er mit dem Führungstreffer gegen Deutschland den Erlöser gegeben, gegen Kroatien und Tschechien hatte er jeweils das einzige Tor des Spiels erzielt. Auf einmal ist Sterling Everybody’s Darling. Und nebenbei ist er der einzige, der die Laufwege von Anführer Kane antizipiert, bevor der Torjäger überhaupt startet.

Dass Teamchef Gareth Southgate bereits bei der Weltmeisterschaft 2018 den beiden Offensivkräften vertraut hatte, macht es jetzt einfacher. Aber erst jetzt erfährt auch Englands Nummer zehn den verdienten Respekt und die angebrachte Anerkennung. Der 67-fache Nationalspieler kann viel über die schwierige Beziehung zum leidensfähigen englischen Anhang erzählen. Eigentlich wurde, wenn nicht wieder ein Torwart gepatzt hatte, immer er zuerst fürs Scheitern verantwortlich gemacht.

Die Anfeindungen kumulierten bei der Europameisterschaft 2016, als Sterling in den sozialen Medien mit dem Hashtag »The Hated One« antwortete. Der Gehasste. Eine Anspielung auf »The Special One«, Copyright bei José Mourinho. Die gellenden Pfiffe, die beim mühsamen 2:1 gegen Wales im französischen Lens die englische Kurve auf ihn herabregnen ließ wie ein Unwetter, setzten ihm lange Zeit zu. »Es war die schwierigste Phase meiner Karriere«, berichtete der vor privaten Fehltritten nicht gefeite Profifußballer, den die Citizens vor sechs Jahren für die damalige englische Rekordsumme von 50 Millionen Pfund vom FC Liverpool nach Manchester lockten. Schon allein dieser Wechsel war viele geeignet genug, um ihn als undankbaren Raffzahn an den Pranger zu stellen.

Doch vielleicht heilen die Wunden im Fußball wirklich schneller als in jedem anderen Beruf. Und mit den Finalspielen in Wembley wird die Story fast rührig. Internationale Kamerateams haben bereits am Elternhaus im gleichnamigen Stadtteil geklingelt, wo Sterling ab dem fünften Lebensjahr aufgewachsen ist. Sterlings Familie stammt aus Jamaika, in Maverley, einem der gefährlichsten Viertel von Kingston, wurde der Vater ermordet, als Raheem zwei Jahre alt war. Zunächst wanderte die Mutter ohne ihn und seine Schwester nach England aus, erst als er fünf Jahre alt war, konnte er nachkommen. Kaum verwunderlich, dass die Kindheit nicht einfach verlief, zumal der Londoner Nordwesten viele Jugendliche beheimatet, die auf die schiefe Bahn geraten. Dass Sterlings Lebensweg nicht in einer Sackgasse endete, verdankt er seiner besonderen sportlichen Begabung. Im Alter von zehn Jahren sollte ihm sein Nachhilfelehrer sagen: »Wenn du diesen Weg weitergehst, spielst du mit 17 entweder für England oder du landest im Knast.«

Nun soll er mithelfen, die stolze Fußballnation von dem Trauma befreien, seit 1966 keinen Titel gewonnen zu haben. Der damalige Sieg gegen Deutschland, noch im alten Wembley, ist eigentlich viel zu lange her, um einen Ruf als führendes Fußballland zu erhalten. Nichts würden den historischen Kreis besser schließen, als der EM-Triumph an selber Stelle 55 Jahre danach. Das ist auch Sterling bewusst. Und so sagte er vor dem Finale: »Wir wissen, was der Fußball diesem Land bedeutet. Wir werden jetzt ein bisschen feiern und uns dann auf Italien konzentrieren.«

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