Ein Haus, zwei Welten

Jekyll und Hyde in Prenzlauer Berg: »Nebenan« ist ein faszinierendes filmisches Kammerspiel

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Nein, wir leben nicht alle in der gleichen Zeit, der gleichen Gesellschaft, obwohl man annehmen könnte, dass dies so sei - in einer Stadt, in einem Haus. Aber Daniel und Bruno kennen sich nicht einmal, das heißt, Daniel kennt Bruno nicht, und wie genau Bruno Daniel kennt, wird sich noch zeigen.

Daniel Brühl hat seinen ersten Spielfilm gedreht und sich selbst als Hauptdarsteller besetzt - das zeugt von Selbstbewusstsein. Das Drehbuch schrieb Daniel Kehlmann. Man kennt sich bereits aus »Ich und Kaminski« von Wolfgang Becker, zu dem Kehlmann ebenfalls das Drehbuch schrieb. Das war ein ungewöhnlicher Film über Lüge, Verdrängung und Selbststilisierung eines Künstlers und seines Biografen, eines mittelmäßigen Kunstkritikers (gespielt von Daniel Brühl), der sich diesem Egozentriker nicht gewachsen zeigt.

Nun also sehen wir Daniel Brühl als sein Alter Ego, den Erfolgsschauspieler Daniel (nur mit Vornamen), wohnhaft in einer jener Dachgeschosswohnungen in Berliner Prenzlauer Berg, zu denen man im eigenen Fahrstuhl gelangt, damit man nicht zufällig im Treppenhaus mit gewöhnlichen Sterblichen zusammentrifft. Ein Biotop der Besserverdienenden. Die leben in ihrer eigenen Weltblase, sind dabei natürlich immer noch so grün-alternativ gestimmt wie einst in Studententagen. Natürlich wollen sie das Klima retten und spenden dafür reichlich, was sie wiederum von der Steuer absetzen. Sie haben Geld und ein gutes Gewissen - wenn das nicht eine uneinnehmbare Festung ist! Sie sind die Guten, die Modernen und Erfolgreichen in Personalunion und verstehen nicht, warum nicht alle Menschen so sein können - vermutlich, weil sie unbegabt und faul sind. Der Weg vom grün-alternativen Lebensstil zur neoliberalen Egomanie ist kurz. Über diese Parallelgesellschaften in den Großstädten haben Brühl und Kehlmann »Nebenan« gedreht. Dein Nachbar, das unbekannte Wesen!

Dort oben im Dachgeschoss-Loft, das wie ein Ufo auf dem Haus gelandet scheint, also wohnt Daniel, wenn er nicht gerade durch die Welt jettet, was meist der Fall ist. Ein spanisch sprechendes Kindermädchen kümmert sich um den Nachwuchs, die Frau ist Ärztin mit eigener Praxis. Daniel beschäftigt sich die meiste Zeit damit, mit Agenten und Assistenten in aller Welt zu telefonieren, und vor der Haustür wartet an diesem Morgen schon die Limousine, die ihn zum Flughafen bringen soll, denn in London hat er einen wichtigen Termin, ein Casting für irgendeine amerikanische Filmproduktion, bei der es viel Geld zu verdienen gibt.

Aber an diesem Morgen begeht Daniel einen folgenschweren Fehler. Er hat noch Zeit bis zum Flug und lässt die Limousine, die ihn zum Flughafen bringen soll, fahren und geht erst einmal in die Eckkneipe. So etwas gibt es in der Realität des gentrifizierten ehemaligen Arbeiter- und Alte-Leute-Bezirks Prenzlauer Berg längst nicht mehr, aber ein Film setzt nun mal eigene Realitäten.

Hier wartet jemand auf ihn und das nicht erst seit heute. Er heißt Bruno und wohnt im gleichen Haus. Seinem Vater gehörte einst jene Dachgeschosswohnung, in der nun - nach Verkauf und Luxussanierung - Daniel wohnt. Er wurde entmietet und zog, bereits schwer krank, in die Zweizimmerwohnung Brunos mit ein. Inzwischen ist er gestorben.

Nun also stehen sich beide in der Eckkneipe gegenüber, genauer, Bruno sitzt eher gelangweilt am Tresen und fragt beiläufig, ob er ein Autogramm bekommen könne. Nein, Papier und Stift habe er nicht. Eine Serviette tut’s auch. Daniel geht hier noch einmal seinen Vorsprechtext durch, bei Kaffee, der nicht aus dem Espressoautomaten kommt, aber ihn dafür, wie er jovial in die Runde sagt, an seine Mutter erinnert. Bruno unterbricht ihn ständig auf beiläufige, aber unüberhörbare Weise, mit Bemerkungen, die davon zeugen, dass er sich auskennt mit Daniel und seinem Leben. Seine Filme hat er alle gesehen, aber: »Na ja, Sie machen das auch nicht gut.« Mit der Autogramm-Serviette hat er sich auch schon den Mund abgewischt. Daniel reagiert genervt und arrogant. Schön, jeder habe das Recht auf eine Meinung, aber die seine interessiere ihn überhaupt nicht. Doch Bruno hat immer mehr Details parat, kennt sogar Daniels Kreditkartenabbuchungen, weiß, wann und wo seine Frau im Hotel übernachtete und seine Internetaktivitäten kennt er natürlich auch. Irgendwann spürt Daniel: Es wird gefährlich, dieser Bruno, den er bis eben nicht zu kennen meinte, will seine Luxus-Existenz vernichten.

Peter Kurth ist Bruno, ein massiger Racheengel des Ostens, einer mit kaputter Biografie, der sich von Leuten wie Daniel, dem Überflieger aus dem Westen, um seine Existenz gebracht sieht. So kann man es sehen, aber das wäre wohl nur die halbe Wahrheit. Denn Kurth und Brühl liefern sich hier auf engstem Kneipenraum (den Daniel immer mal kurzzeitig zu verlassen versucht, aber immer vergeblich) einen atemberaubenden Schlagabtausch. Das hier ist ein Kammerspiel, in dem es nicht bloß um Psychologie geht, sondern um jene Welten, die man tatsächlich bewohnt und jene, von denen man nichts weiß. Ein Haus, zwei Welten.

Das gegenseitige Ost-West-Unverständnis an einem exemplarischen Ort wie den Prenzlauer Berg ist nur eine Facette der zunehmenden Atomisierung der Gesellschaft. Jeder ist - mitsamt der eigenen Community, die noch so klein sein kann - eine Welt für sich. Diesseits nur Freunde, jenseits nur Feinde. Das ist der Punkt, um den es Kehlmann/ Brühl geht: Die unaufhaltsame Selbstghettoisierung, über die bereits Louis Aragon in »Die Viertel der Reichen« schrieb. Die einen wissen nichts davon, wie die anderen leben, was sie denken und fühlen. Ein Zustand, an dem eine Gesellschaft zerbrechen muss. Seltsam, dass »Nebenan« bereits auf allergische Reaktionen bei einigen Kritikern stieß. Was missfiel ihnen so? Vermutlich, dass Kehlmann und Brühl unsere Gesellschaft auch da als krank zeigen, wo sie völlig gesund scheint.

Brühl hat ein Gespür für das Ungesunde herrschender Zustände, wenn er im Gespräch zu »Nebenan« sagt: »Wenn man für das, was im eigenen Umfeld geschieht, einigermaßen sensibilisiert ist, beschäftigt einen diese Inkohärenz ständig: sozialdemokratisch erzogen, liberal, den Menschen zugewandt - und gleichzeitig geht es einem besser als den Leuten gegenüber. Ich merke nach 20 Jahren noch, woher ich komme und wie privilegiert ich lebe.«

Man glaubt es ihm, sein Spiel zeigt es. Wie einst in seinem ersten wichtigen Film »Das weiße Rauschen« (2001) von Hans Weingartner. Darin war Brühl ein Abiturient aus der Provinz, der nach Köln zieht, um dort zu studieren. Aber dazu kommt es nicht. Denn bei einer Party nimmt er psychedelische Drogen, die bei ihm eine latente Schizophrenie ausbrechen lassen. So gerät er in einen nicht mehr zu stoppenden Abwärtsstrudel. Ein Absturz aus einer Welt in eine andere.

Ähnlich nahe am Schizophrenen ist auch »Nebenan« angesiedelt. Bruno und Daniel wirken wie Jekyll und Hyde, zwei Seiten eines Psychopathen - der eine offensichtlich ohne Hemmung, ein Verbrechen zu begehen und der andere? Aufsteiger und Absteiger sind hier verbunden in maßloser De-struktion.

Am Ende von Brunos Zerstörungswerk, das auf Daniels Ehe zielt, sehen wir starke Bilder von einer unzerstörbaren Beziehung, die nie eine war. Daniel muss nicht erst verlassen werden, er ist es längst. Eine Sittengeschichte aus dem Berlin von heute, so grausam und alltäglich, dass sie schaudern lässt.

»Nebenan«: Deutschland 2021. Regie: Daniel Brühl, Buch: Daniel Kehlmann. Mit: Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann, Aenne Schwarz, 92 Minuten. Jetzt im Kino.

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