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  • »Mountain of Grief«

Berge mit schmerzhafter Geschichte

Das Kunstprojekt »Mountain of Grief« macht die Erfahrungen von queeren Menschen in Kirgistan zum Thema

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Kirgistan ist ein Land der Berge. Sie bedecken fast die komplette Fläche des zentralasiatischen Staates und für viele Kirgis*innen sind sie ein wichtiger Teil ihrer Identität und ein nationales Symbol. Doch die kirgisischen Berge haben noch eine ganz andere, schmerzhafte Bedeutung, erzählt Diana Arseneva: »Auf der einen Seite sind die Berge der Stolz unseres Landes. Aber auf der anderen Seite sind sie ein schrecklicher Ort, an den Menschen gebracht werden, um sie zu missbrauchen, zu verprügeln, zu vergewaltigen oder zu ermorden. Queere Menschen und Frauen. Die Berge sind also ein Ort, der eine Menge schmerzhafter persönlicher Geschichten von Menschen birgt, die dort Gewalt erfahren haben.«

Arseneva ist Direktorin der kirgisischen Organisation »Labrys«, die sich seit 17 Jahren für LGBTQ-Personen in Kirgistan und ganz Zentralasien einsetzt. Gemeinsam mit dem ukrainischen Künstler Maksim Finogeev hat »Labrys« das Kunstprojekt »Mountain of Grief« entwickelt, das die Erfahrungen von queeren Menschen in Kirgistan zum Thema hat. Unterstützt wurden sie dabei von der georgischen Plattform »ARTIF«, die Künstler*innen und Aktivist*innen zusammenbringt, um Menschenrechtsthemen durch Kunstprojekte zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.

Das hybride Projekt »Mountain of Grief« ist eine Wanderroute in den Bergen nahe der Hauptstadt Bischkek, die man sowohl vor Ort als auch virtuell begehen kann. Finogeev hat Berichte von Angriffen auf LGBTQ-Personen aus den Archiven von Labrys und homophobe Aussagen aus den Medien zu einer erschütternden Sammlung zusammengestellt. An fünf Stationen lassen sich Ausschnitte daraus per Audioguide anhören.

»Mountain of Grief« dokumentiert den Hass aber nicht nur, sondern bringt ihn in eine künstlerische Form, die es ermöglicht, den Opfern von homophober und transphober Gewalt zu gedenken. Poesie und Musik begleiten dabei die erschütternden Texte. Die fünf Stationen repräsentieren fünf Richtungen. Jede von ihnen korrespondiert mit einer Phase der Trauer und Bewältigung, wie sie die Psychologin Elisabeth Kübler-Ross entwickelt hat: Der Osten steht für das Nicht-Wahrhaben-Wollen, der Süden für die Wut, der Westen für das Verhandeln, der Norden für Stagnation und Depression und das Zentrum für die Akzeptanz.

Dieser psychologische Aspekt ist für Maksim Finogeev ein besonderes Anliegen: »Für mich war die Frage sehr wichtig, wie man es psychisch bewältigt, in einer homophoben Umgebung homosexuell zu sein. Das ist auch für mich persönlich eine offene Frage.« Er will trotz der vielen Fälle von Hass und Gewalt in Kirgistan, aber auch in der Ukraine, wo er lebt, nicht resignieren. Die Berge haben deshalb noch eine dritte Bedeutung für das Projekt. »In die Berge zu gehen, kann auch bedeuten, Hindernisse zu überwinden«, sagt Diana Arseneva.

Noch sind es viele Hindernisse, die überwunden werden müssen. Die Homo- und Transphobie ist in Kirgistan, wie auch im übrigen postsowjetischen Raum, weit verbreitet. In zwei zentralasiatischen Staaten, Turkmenistan und Usbekistan, steht auf Homosexualität zwischen Männern eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Das ist in Kirgistan zwar nicht der Fall, aber die Bedrohung für Menschen, die offen zu ihrer Homosexualität stehen, ist dennoch sehr groß. Es gab bereits mehrere Versuche, restriktive homophobe Gesetze wie in Russland zu verabschieden, berichtet Diana Arseneva. »Kirgistan befindet sich an einer Art Scheideweg«, fügt sie hinzu. Sowohl westliche Staaten als auch Russland üben Einfluss auf das Land aus und sind wichtige Geldgeber. Und Russland drängt darauf, dass auch in Kirgistan ein Gesetz gegen sogenannte »Homosexuelle Propaganda« erlassen wird.

Lange galt Kirgistan als eine Art demokratische Insel in Zentralasien. Während in Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan autoritäre Regime regieren und die Machtverhältnisse seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr oder weniger unverändert geblieben sind, wurden in Kirgistan in den letzten 30 Jahren bereits drei Präsidenten von der Bevölkerung gestürzt. Nach gewaltsamen Protesten im Herbst vergangenen Jahres wurde Sadyr Dschaparow im Januar mit großer Mehrheit zum neuen Präsidenten gewählt. Seitdem kam es zu Angriffen auf die Pressefreiheit, und die Rolle des Präsidenten wurde gegenüber dem Parlament gestärkt. Viele fürchten deshalb, dass auch Kirgistan dabei ist, zu einem autoritär regierten Staat zu werden. Wie sich vor diesem Hintergrund die Lage von LGBTQ-Personen weiter entwickeln wird, ist ungewiss.

Heute entscheiden sich die meisten queeren Menschen in Kirgistan dafür, ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verschweigen. Wenn man sich den Audioguide von »Mountain of Grief« anhört, wird schnell klar, warum. Es sind Geschichten, die einen fassungslos zurücklassen. Eine lesbische Frau erzählt von der Ablehnung und den verbalen Angriffen, die sie in der eigenen Familie erleben musste: »Meine Mutter hat allen erzählt, dass ich eine Lesbe bin und ekelhafte lesbische Sachen mit meiner Freundin mache. Die Verwandten, die davon erfuhren, setzten mich unter Druck. Einige sagten, es wäre eine Krankheit, die man behandeln muss.« Viele, deren Geschichten von »Mountain of Grief« dokumentiert werden, haben auch körperliche Gewalt erfahren. »Wo auch immer ich hinging, irgendjemand hat mir immer ›Schwuchtel‹ hinterhergerufen und dass man mich verbrennen sollte. Ich wurde oft verprügelt, ich habe noch immer Narben im Gesicht. Mein ganzer Körper ist voller Narben, nur weil ich schwul bin«, erzählt eine von diesen Personen.

Eine trans Frau trug schwere Verletzungen davon, weil sie offen mit ihrer Geschlechtsidentität umging: »Ich gehe überall zusammen mit meinen Freundinnen hin. Sie sind auch trans Frauen. Wir gehen in Clubs oder Cafés und wir tanzen. Wenn Männer mich ansprechen, sage ich ihnen, dass ich trans bin. Einmal hat jemand etwas in mein Getränk getan, nachdem er es herausfand. Ich wurde bewusstlos und wachte in den Bergen auf. Ich wachte auf, weil mir jemand ins Gesicht schlug. Ich wurde verprügelt und meine Haare abgeschnitten.« Andere berichten davon, als »Schande für das kirgisische Volk« beschimpft worden zu sein. Homo- und Transphobie geht oft mit Nationalismus einher, der queere Menschen genauso wie Migrant*innen als etwas Fremdes abwertet.

Das Projekt »Mountain of Grief« greift diese Sichtweise an, indem es nationale Symbole umdeutet und in Beziehung zu den Erfahrungen von LGBTQ-Personen in Kirgistan setzt. Neben den Bergen ist das »Manas«-Epos ein wichtiger Teil der kirgisischen Identität. Die Verse des Epos, das von einem mythischen Volkshelden handelt, werden oft von speziellen Rezitator*innen vorgetragen. »Es ist ein sehr eigener Stil, wie Spoken-Word-Poetry. Das Lesen dauert Stunden und es hat einen ganz besonderen Rhythmus«, erzählt Maksim Finogeev. Eine feministische Rezitatorin hat die für den Audioguide zusammengestellten Geschichten im Stil des Epos eingesprochen.

Damit zeigen die Künstler*innen, dass die Erfahrungen von LGBTQ-Personen zu Kirgistan gehören und genauso wie der Volksheld Manas einen legitimen Platz in der kirgisischen Geschichte und Kultur haben. »Natürlich sind die Berichte aus den Nachrichten und aus den Archiven von Labrys leider keine positiven Fälle. Es geht um Verurteilung und Gewalt. Aber diese Erfahrungen sind auch ein Teil der Geschichte des Landes. Es ist wichtig, das sichtbar zu machen«, sagt Finogeev. Es soll nicht hingenommen werden, dass die kirgisische Identität als etwas Homogenes verstanden wird und in ihrem Namen queere Menschen ausgeschlossen oder sogar als Feinde betrachtet werden. Indem sich »Mountain of Grief« nationale Symbole wie die kirgisischen Berge und das Manas-Epos aneignet, zeigt das Projekt zweierlei: Diese Symbole gehören den homosexuellen und trans Kirgis*innen genauso wie allen anderen. Und gleichzeitig haben sie für sie auch eine andere, schmerzhafte Bedeutung, die mit Gewalt und Verfolgung verbunden ist.

Die Umsetzung des Projekts fiel in turbulente Zeiten. Mit der Corona-Pandemie und dem politischen Umsturz erschütterten gleich zwei Krisen das Land. »Es war schwer, mediale Aufmerksamkeit zu bekommen wegen der Gewalt während der Revolution und den Toten in der Pandemie«, berichtet Diana Arseneva. Und sie zieht eine bedrückende Parallele: »Im Grunde zeigt unser Projekt, dass die Art und Weise, wie sich heterosexuelle cis Menschen in dieser Zeit gefühlt haben, dem entspricht, wie sich LGBTQ-Personen schon ihr ganzes Leben lang gefühlt haben - nur zu Hause sitzen und Angst haben, auf der Straße angegriffen zu werden und so weiter …«

Da im öffentlichen und medialen Diskurs Homo- und Transphobie dominieren, sind es oft die Betroffenen selbst, die versuchen müssen, für Sichtbarkeit und Aufklärung zu sorgen. Dabei gehen sie ein großes Risiko ein. Bei »Mountain of Grief« werden keine Namen genannt, um diejenigen zu schützen, deren Geschichten das Projekt erzählt. »Es ist paradox«, sag Maksim Finogeev. »Wenn man die Situation verändern will, muss man sichtbar sein. Aber wenn man sichtbar ist, begibt man sich in Gefahr.«

Das Projekt ist auf der Seite www.labrys.kg/goragorya_en auf Englisch verfügbar, weitere Versionen gibt es auf Kirgisisch und Russisch.

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