»An vorderster Front in dieser Krise«

In Indonesien greifen in der Pandemie Depressionen und Angstzustände unter Kindern um sich

  • Barbara Barkhausen, Sydney
  • Lesedauer: 4 Min.

Dewi ist 13 Jahre alt. Sie lebt mit ihren Großeltern in der balinesischen Hauptstadt Denpasar. Ihre Eltern sind vor sechs Jahren gestorben, ihr Großvater ist seit einem Schlaganfall ans Haus gebunden. Wegen der Pandemie musste auch die Großmutter ihren Marktstand dichtmachen. Die Drei teilen sich gerade mal eine dünne Matratze. »Als sie zu mir kam, fiel mir auf, dass sie ihre Handgelenke geritzt hatte«, berichtete Kim Farr. Die Neuseeländerin betreibt mit ihrer Organisation »Bali Street Mums Project« ein »Safe House« für Kinder und Mütter in Denpasar. »Die Kinder sind an vorderster Front in dieser Krise«, sagte sie. »Die Schulen sind seit 19 Monaten geschlossen, zwingen die Eltern aber trotzdem zu zahlen, damit die Kinder versetzt werden.« Viele würden inzwischen in extremer Armut leben.

Vor allem viele Teenager leiden inzwischen unter Depressionen und Angstzuständen. Hunderte Kinder sind in dem südostasiatischen Inselstaat aber auch an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Laut der Organisation »Save the Children« zählt Indonesien zu den Ländern der Welt, die die meisten Infektionen bei Kindern registrieren. Jeder achte bestätigte Corona-Fall sei ein Kind, heißt es vonseiten der Organisation. Mehr als 700 Kinder sind an der Viruskrankheit gestorben, die Hälfte davon unter fünf Jahren.

»Wir hören Berichte über ganze Familien, einschließlich Kleinkinder, die mit Corona infiziert sind und von mehreren Krankenhäusern abgewiesen wurden, weil diese keine Patienten mehr aufnehmen können«, sagte Dino Satria von »Save the Children« in Indonesien. »Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch, die Sauerstoffvorräte gehen zur Neige und jeden Tag sterben mehr Kinder und Babys an dieser hochansteckenden, extrem gefährlichen neuen Delta-Variante.«

Kim Farr weiß auch von Opfern in Bali. Fünf Kinder seien allein in den vergangenen zwei Wochen auf der Insel gestorben, hat sie von den Behörden erfahren. »Ich wäre aber nicht überrascht, wenn es in den Slums noch deutlich mehr wären, von denen wir nicht wissen.« Viele Familien, die durch die Ausgangssperren ihr Einkommen verloren haben, können es sich gar nicht mehr leisten, ins Krankenhaus zu gehen. Zudem sind viele Kinder so unterernährt, »dass sie dem Virus nicht viel entgegenzusetzen haben«.

Insgesamt zählt das Land weit über drei Millionen Infektionen und fast 90 000 Tote. Am Dienstag überstieg die tägliche Zahl der Todesopfer erstmals 2000 Menschen am Tag. Auch in Bali war die Situation zwischenzeitlich kritisch. »Als ich letztens mit einem meiner Kinder im Krankenhaus war, waren lange Schlangen, die auf Sauerstoff warteten«, berichtete Farr. Laut lokaler Medien sind inzwischen aber neue Vorräte eingetroffen, die die Lage etwas entzerrt haben. »Außerdem arbeitet die Regierung hart daran, die Impfungen voranzutreiben«, sagte sie.

Letzteres bestätigt auch Andreas Harsono. Der Indonesienexperte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch war wie auch seine Frau und Tochter an Covid-19 erkrankt. »Uns geht es langsam wieder besser, nachdem wir drei Wochen in Isolation waren«, schrieb er Ende Juli in einer E-Mail. Seine Frau brauchte Sauerstoff, den er letztendlich nur dank eines Hilferufs über Twitter besorgen konnte. »Impfstoff gibt es genug«, sagte Harsono. Doch der Prozess sei langwierig und zu viel Bürokratie notwendig. Die Impfungen sind umsonst, doch ein Krankenhausaufenthalt ist für viele Indonesier inzwischen zu teuer.

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Miki Massey, die mit ihrem Mann und zwei Kindern auf Bali lebt, ist selbst von dem Virus bisher verschont geblieben. Doch sie berichtet von den »schrecklichen wirtschaftlichen Folgen«, die die Lockdowns auf der Insel angerichtet haben. »Viele Geschäfte mussten schließen, ab acht Uhr am Abend herrscht eine Ausgangssperre.« Doch viele Indonesier sind - wie auch etliche Menschen in anderen Ländern - Covid-müde. Viele würden sich nicht mehr unbedingt an die Beschränkungen halten, ist Masseys Beobachtung. »Selbst religiöse Zeremonien mit 30 bis 50 Menschen finden teilweise statt.«

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Neben der zunehmenden Anzahl kranker Kinder häufen sich auch die Berichte von schwangeren Frauen in Indonesien, die an Covid-19 erkrankt und teilweise sogar verstorben sind. Gesti Wira Nugrayekti beispielsweise testete am Tag vor der Geburt ihres Sohnes Anfang Juli positiv. Drei Wochen später starb die 25-jährige Ärztin, ohne ihr Neugeborenes noch einmal im Arm gehalten zu haben. Einer ihrer Freunde schrieb nach ihrem Tod auf Twitter, es sei »herzzerreißend«, die Details ihres Todes aus dem Freundeskreis zu erfahren. »Dies ist ein Weckruf für uns alle.«

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