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Faible für Wirksamkeit

Zum Tod des früheren ND-Journalisten und Autors Harald Wessel

  • Holger Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
Das waren die 80er Jahre im Anzug und im ND: Harald Wessel (ganz links) neben Günter Schabowski, Joachim Herrmann und Herbert Naumann
Das waren die 80er Jahre im Anzug und im ND: Harald Wessel (ganz links) neben Günter Schabowski, Joachim Herrmann und Herbert Naumann

Noch am Sonntag hat er in seinem Garten eine Clematis gepflanzt, eine dunkelrote. Es war das letzte, was er tat, in seinem langen Leben. Am Montag ist er, 91jährig, gestorben nach längerem listenreichen Kampf mit der Krankheit und dem, was euphemistisch »Gesundheitssystem« benannt worden ist.

Wer Harald Wessel in seinem Garten vor den Toren Berlins besuchte, wurde, wenn das Wetter es zuließ, mitgenommen auf einen botanischen Lehrpfad, gesäumt von exotischen Bäumen und Sträuchern. Gern erklärte er dem Gast, woher die Samen der Gewächse stammten. Nicht selten von Reisen, die er für »Neues Deutschland« als Reporter machen konnte. Ich weiß nicht, wie es anderen Besuchern erging, etwa Egon Krenz oder Günter Schabowski, Frank Schirrmacher und Johann Georg Reißmüller, den früheren Herausgebern der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« - wem er Gartenverständnis zutraute, der durfte junge Pflanzen mitnehmen und Ratschläge des studierten Biologen, wie diese zum Wachsen gebracht werden können. So versuchen jetzt drei Amerikanische Eichen in meinem Garten an Höhe zu gewinnen. Sie erinnern an John Reed. »Roter Reporter aus dem Wilden Westen«, hieß das Buch, das Wessel nach einer USA-Reise über Reed, den Freund Lenins und Trotzkis, schrieb.

HaWe, wie er selbst seinen Namen abkürzte, hatte ein Faible für legendäre, wirkungsmächtige linke Journalisten und Journalismusermöglicher. Sich selbst an diesem Vorbild messend und es allen Berufsgenossen empfehlend, schrieb er über Egon Erwin Kisch, den deutschen Großmeister der Reportage. Und mit seinem Freund Klaus Höpcke, dem DDR-Bücherminister, sorgte er dafür, 1985 in Berlin Unter den Linden, Ecke Schadowstraße das »Café Kisch« zu eröffnen. Dem Vernehmen war es Helmut Kohl, der in den 1990er an dieser Stelle einen Wechsel zum Saumagenangebot in einer Pfälzer Weinstube veranlasste.

Wer in der DDR wußte noch von Willi Münzenberg, dem erfolgreichen Verleger und Organisator mit seinem Imperium auflagenstarker Zeitungen und Zeitschriften und sogar Filmfirmen? Seit der Kommunist Münzenberg sich 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt sich von Moskau losgesagt hatte, hielten alle sowjetischen Führungsriegen an dem Diktum fest, seinen Namen nicht mehr zu nennen. Insofern stellte es eine Sensation dar, als »Neues Deutschland« 1989 eine vierteilige Serie seines stellvertretenden Chefredakteurs Harald Wessel über den »Roten Pressezaren« druckte. Und das war durchaus nicht das Verdienst Gorbatschowscher »Glasnost«.

Wenn dem Sohn kleiner Leute aus Wuppertal, dem der Osten die Möglichkeit geboten hatte, zu einem führenden politischen Intellektuellen aufzusteigen, dennoch der Ruf eines Dogmatikers anhaftete oder besser: angeheftet wurde, dann hat er das vor allem SED-Generalsekretär Erich Honecker zu verdanken. Wirklich verdient hatte Wessel - eigentlich ein Langstreckenläufer der immanenten Systemkritik, seit er zu Beginn der 1960er Jahre Walter Ulbrichts liberale Jugendpolitik mitkonzipiert hatte - das nicht.

Als im Oktober 1987 das ZDF und das sowjetische Staatsfernsehen eine »Fernsehbrücke« quasi über die DDR hinweg von Mainz nach Leningrad spannten und dabei Sowjetbürger dem »großen deutschen Volk« die Wiedervereinigung wünschten, schickte HaWe den Entwurf eines ND-Kommentars an Honecker. James-Bond-hafter Titel: »Liebesgrüße von der Newa«. Er, der alles und das nun erst recht aufhob, zeigte mir den Text bei einem meiner letzten Besuche. Falls im Zentralorgan gedruckt, wäre darin die »deutsche Frage« als eine Angelegenheit bezeichnet worden, »die vor allem die Bürger der beiden deutschen Staaten zu entscheiden haben«.

Doch Honecker traute sich nicht. Um den Esel zu treffen solle der Sack geprügelt und der Film »Die Reue« von Tengis Abuladse kritisiert werden, der im Rahmen der »Fernsehbrücke« gelaufen war. Man kann sagen, es war ein Fehler, daß HaWe und das ND sich dem fügten. Wer es als persönlichen Vorwurf formuliert, verkennt die Zeiten oder kennt eben nicht die ganze Geschichte.

Nein, der Umgang mit HaWe war nicht immer leicht. Wie kommt man an gegen einen geistig überlegenen, höchstgebildeten Choleriker mit hoher Durchsetzungskraft und zuweilen einer Ruppigkeit, die an Walter Matthau erinnert? Irgendwie dagegenhalten. Dann ging es, und es ließ sich sehr viel lernen von ihm. Zum Beispiel Präzision und Entdeckerfreude. Man lese nur seine Bücher über Friedrich Engels und Karl Marx’ Tochter »Tussy«.

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