»Was ich mache, muss größer sein als ich«

Kharis Petronelle Ikoko macht Kunst für Menschen, die nicht gehört werden

  • Interview: Gisela Dürselen
  • Lesedauer: 6 Min.
Antikolonialismus – »Was ich mache, muss größer sein als ich«

Sie arbeiten als Sängerin, Bildungsreferentin, Antirassismus-Trainerin und Kuratorin. Als politische Aktivistin haben Sie nach der Ermordung von George Floyd 2020 bundesweit Demos organisiert, und nebenbei studieren Sie Kommunikationsdesign. Wie bringen Sie so viele unterschiedliche Aktivitäten unter einen Hut?

Woher bekomme ich meine Kraft? Zuerst beziehe ich meine Kraft von all den Menschen um mich herum, die mich sehr unterstützen: Das sind allen voran meine Mama, die immer ein offenes Ohr für meine Träume und Aktivitäten hat, und auch mein Team, mit dem ich seit zwei Jahren arbeite. Und dann habe ich irgendwann gelernt: Das, was ich mache, muss größer sein als ich. Für mich ist es wichtig, anderen Menschen Möglichkeiten zu geben und Netzwerke zu eröffnen. Und wichtig ist mir natürlich auch der Kongo: Ich kann das Land nicht retten, aber ich kann auch nicht herumsitzen und einfach nichts tun. Ich muss das Privileg nutzen, das mir gegeben worden ist: ganz allgemein die Möglichkeit, für Menschen zu sprechen, die vom System marginalisiert werden.

Welche Rolle spielt es für Sie, dass Sie im Alter von acht Jahren aus dem Kongo nach Deutschland gekommen sind?

Über den Familiennachzug bin ich nach Deutschland gekommen. Das prägt mich. Uns alle prägt unsere persönliche Geschichte: Ob unsere Eltern Bildung haben oder nicht, ob sie reich oder arm sind, was uns mitgegeben wird oder auch nicht. Dass wir in Deutschland ein so gutes Leben führen können, ist meist nur möglich, weil andere Länder davor kolonisiert wurden, weil wir sie weiter ausbeuten oder eben ignorant gegenüber Menschenrechten sind – das alles spielt eine Rolle.

Wo finden Sie Ihre Identität?

Ich habe einen deutschen Pass, bin aber Kongolesin. Ich denke, ich fühle mich der kongolesischen Geschichte näher als der deutschen. Das bedeutet auch, dass das, was in Afrika passiert, auch etwas mit mir zu tun hat. Ich habe gleichzeitig das Gefühl, dass auch dann, wenn ich diesen besonderen Blick auf die afrikanische Kultur und Geschichte nicht hätte, mir von außen klar und deutlich gemacht würde, diesen Blick haben zu müssen: weil ich klassifiziert werde als afrikanische Frau, als eine Person, die nicht Teil der deutschen Geschichte ist, obwohl ja gerade durch den Kolonialismus unsere Geschichten eng miteinander verwoben sind.

Interview

Kharis Petronelle Ikoko, Jahrgang 1995, wohnt in München, arbeitet als Sängerin, Bildungsreferentin, Antirassismus-Trainerin, Kuratorin und politische Aktivistin. Mit ihrer Musik, die von R’n’B und HipHop bis hin zu Afro reicht, thematisiert sie ihre politischen Anliegen. Sie tritt unter dem Künstlerinnennamen Kokonelle auf.

Wie lebt es sich als afrikanisch gelesene Frau in Deutschland?

Die Frage ist: Wo fühle ich mich gesehen und gehört und als Teil der Gesellschaft? Das ist auch und besonders eine strukturelle Frage. Am Ende des Tages hat das alles auch etwas mit Zugängen zu tun. Wo bekomme ich meine Ressourcen – und wo nicht? Wir könnten uns vor einer wirklichen strukturellen Gleichberechtigung zumindest als gleichwertig akzeptieren. Wenn ich zum Beispiel in einer Stadt wie München lebe, wo die Wohnungssuche eine Katastrophe ist, möchte ich nicht, dass die Zusage davon abhängig gemacht wird, ob mein Name Kharis Petronelle Ikoko ist oder Thomas Müller.

Sind der Kongo und Kolonialismus ein Thema bei Ihren Workshops zu Antirassismus und Critical Whiteness?

Durch die Antirassismus- und Critical-Whiteness-Arbeit möchte ich Brücken bauen, andere Perspektiven aufmachen. Gleichzeitig möchte ich aufzeigen, wie Menschen behandelt werden. Ich möchte die uns vorgegebenen Strukturen und Privilegien hinterfragen und vielleicht auch innovative Möglichkeiten des Zusammenlebens schaffen. Dabei ist mir ein Verständnis füreinander sehr wichtig: Wir sind doch in Wahrheit so stark miteinander verbunden, dass es schon fast absurd ist, dass wir uns durch Kleinigkeiten auseinanderbringen lassen und bereit sind, unsere Umgebung, unser Umfeld – und da kommt auch die Natur mit ins Spiel – mit Leichtigkeit zu zerstören.

Was uns wiederum in den Kongo führt.

Es gibt dieses Sprichwort: »Da wo’s raucht, da ist meistens auch Feuer.« Im Falle der Demokratischen Republik Kongo sind die Ressourcen das Feuer. Ohne sie könnten wir hier weder mit Handys telefonieren noch mit unseren Laptops arbeiten. Von besonderer Bedeutung ist heutzutage vor allem Uran, ein zentraler Rohstoff für die Kriegsführung. In der transatlantischen Kolonialzeit wurden aus dem Kongo nicht nur wertvolle Rohstoffe wie Kautschuk, Elfenbein, Kupfer, Zinn, Zink, Gold und Diamanten ausgebeutet, sondern auch Menschen versklavt.

Der Kongo gilt als das ressourcenreichste Land der Welt und müsste folglich prosperieren.

Die Tatsache, dass die Ressourcen aus dem Kongo so wichtig für uns sind, lässt uns ignorieren, woher sie kommen und wie wir Menschen dafür ausbeuten. Das Problem dabei ist: Wenn uns das alles bewusst würde, müssten wir auf sehr vieles verzichten – und wir müssten damit anfangen, uns als Menschen weltweit gleichberechtigt zu behandeln. Und das ist etwas, was die meisten nicht wollen. Niemand gibt gerne freiwillig Macht ab.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit die Musik?

Wenn es eine Konstante in meinem Leben gibt, dann ist es wirklich die Musik. Ich kann mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem Musik nicht Teil von allem gewesen ist, was ich tue: heute ebenso wie als Kind im Kongo. Wenn ich meine Musik schreibe, bin ich meist ganz allein mit mir. Musik ist meine Heilung und meine Möglichkeit, mich auszutauschen und Brücken zu bauen. Sie ist eine Sprache, die alles und alle zusammenbringt und vernetzt. Wenn ich mit Musik Ungerechtigkeit thematisiere, dann ist das etwas anderes als eine Rede auf einer Demo.

Als Künstlerin nennen Sie sich Kokonelle.

Kokonelle setzt sich zusammen aus »Koko« von Ikoko und »nelle« von Petronelle. Das hat eine tiefere Bedeutung für mich: Ich nehme die zwei Silben aus meinen Namen und setze sie wieder zusammen. So erkläre ich mir auch mein Leben: Das hängt sehr viel mit Zerrissenheit zusammen. Über die Jahre habe ich gelernt, was es für mich bedeutet hat, so jung meiner Umgebung, Familie, Kultur und Tradition entrissen worden zu sein und in eine Welt hineinzukommen, in der es manchmal wenig Verständnis für Menschen wie mich gibt. Das spiegelt sich auch in meiner Musik wider: in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Menschen, die Widerstand leisten gegen Ungerechtigkeit und nicht aufhören damit.

Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Dank der Unterstützung unserer Community können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen

Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -