- Kultur
- Utopie retten
Optimale Ohnmacht
Der verdammte Optimismus: Guillaume Paoli entlarvt den Fatalismus im Verbesserungsdenken
Vor ungefähr zwei Jahren chattete sich ein junger Belgier zu Tode. Er hatte mit keinem grundbösen Psycho-Manipulator geschrieben, der andere aus schierer Perfidie in die Verzweiflung treiben will, sondern mit einem KI-Bot namens Eliza, entwickelt 1966. Pierre, so der Name des Familienvaters, machte sich immer größere Sorgen um den Klimawandel und die Folgen für das menschliche Zusammenleben. Daraufhin suchte er Rat bei einer neutralen, allwissenden Maschine. Er fütterte sie mit seinen Ängsten, sie bestärkte ihn letztlich in seinen Selbstmordgedanken.
Dieser tragische Fall ist eine schauderhafte Illustration für das Missverhältnis von technischem Optimismus und anthropologischem Pessimismus in dem neuen schmalen Buch des Philosophen Guillaume Paoli. Es trägt den Titel »Etwas Besseres als der Optimismus« und versucht aufzuklären darüber, welche falschen Vorstellungen, herrschaftsdienlich und entkräftend, mit diesem ach so unschuldigen O-Wort daherkommen. In einer Grinsebackengesellschaft, die »optimal« über die wahre Lage der Welt, Armut und Elend der Vielen hinwegtäuscht, denn man soll Gefühle nicht argumentativ widerlegen, sondern muss sie dem andern abnehmen. Dagegen formuliert Paoli eine Kampfansage: gegen Technik- und Marktgläubigkeit und gegen die Ideologie vom kleineren Übel.
»Optimismus ist Pflicht« forderte im letzten Jahrhundert Karl Popper. Er gilt als ein Philosoph des Neoliberalismus, jener Ideologie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam. Doch für seine Kritik geht Paoli ein paar Jahrhunderte weiter zurück: in den Barock, zu Leibniz. Dessen Theodizee-Bestimmung besagt, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, Gott lasse Übel und Böses zu, doch am Ende geht alles gut aus. Das mag seine theologischen Reize haben, legitimiert aber auch blinde und stumme Unterdrückung.
Paoli deduziert, dass der Gegenbegriff zum »Optimismus« keineswegs der vielfach gescholtene »Pessimismus« ist, sondern »Maximalismus« oder »Utopismus«, also Denkansätze, die sich nicht mit dem Gegebenen zufriedenstellen, sondern nach Alternativen, nach einer anderen Welt verlangen. In der Philosophiegeschichte findet er den Jesuiten Louis-Bernard Castel, der 1737 den Begriff »Optimismus« prägte – und zwar als Kritik an Leibniz’ Bestwelttheorie, denn die würde eine mit Gott begründete Moral für unsere Welt überflüssig machen. Der Universalgelehrte Castel prägt im Zuge seiner Leibniz-Schelte noch einen weiteren, heute sehr geläufigen Begriff, nämlich »Fatalismus«: Dem müsste man schließlich anheimfallen, lebten wir im Optimum. Wenn wir vorbestimmte Wege gehen, gibt es keinen Platz für individuell-moralisches Handeln, respektive den freien Willen.
In unserer heutigen westlichen Welt aber hat Gott argumentativ ausgedient. Aus der Theodizee ist in den Worten von Jospeh Vogl die säkulare »Oikodizee« (Joseph Vogl) geworden: Die Annahme, dass »die Märkte« schon alles richten werden, als wären sie von Gott geschaffen worden. Was macht Paoli? Er sucht weiter in der Geschichte nach radikalen Denkern außer der Reihe und trifft auf Bernard Mandeville (1670–1733) und Julien Offray de La Mettrie (1709–1752), beide von Beruf Arzt.
Mandeville vergleicht die menschliche Gesellschaft mit der Selbstregulation eines Bienenvolks und stellt die Behauptung auf, öffentlicher Wohlstand fuße auf privaten Lastern. Im Einzelfall sei beispielsweise Gier eine schlechte Tugend, aber sie führe zum Reichtum aller. Würde man die eigennützigen Initiativen des Einzelnen unterbinden, etwa im Namen moralischer Gesetze von Gottes Gnaden, zerfiele alles, käme Chaos. Dass der Wohlstand der Nationen auf dem Elend der Arbeitenden beruht, so Paoli, nimmt Mandeville vorweg: »Die ganze neoliberale Ideologie ist nichts anderes als ein pseudo-wissenschaftlicher Abklatsch der Bienenfabel«.
La Mettrie äußert die skandalöse These, der Mensch sei eine Maschine. Er tat dies vor der Industrialisierung und verwies auf die Mechanismen des Körpers. Das heißt aber nicht, dass man den Körper zu einem Instrument der Ausbeutung machen sollte. Er setzte das Denken mit Gehirnaktivität gleich und sprach damit dem Menschen eine Seele ab – und bekam große Schwierigkeiten mit der Kirche. Aufgrund von solchen Ansichten musste er erst Frankreich und dann Holland verlassen. Denn ohne das Versprechen auf ewiges Seelenheil verlieren Leid und Unterdrückung im Diesseits ihre Legitimation.
Leider setzte das radikale Technik-Denken keine große Befreiung aller Gepeinigten in Gang. Stattdessen steckten die Menschen ihre, nennen wir sie ruhig so, geistigen Kräfte in die Maschinen. Sie sollten ihnen als Automaten lästige Arbeit abnehmen. Und so beginnt »die völlige Vertauschung von Original und Modell«: Wir erkunden, wie unser Gehirn funktioniert, erschaffen hiernach Computer-Automaten und auf einmal bezeichnen die Menschen ihr Hirn als »Computer«. Sie erklären in Modellen, wie sie »Informationen verarbeiten« mit verkümmertem Rücken beim Computer-Click-Job. Und dann lassen sie Maschinen von Maschinen lernen, wollen Geburtshelfer einer höheren künstlichen Intelligenz werden, die ohne Kopfweh, Hunger, Traurigkeit effizient denkt, also rechnet. Wer das richtig findet, ist Fatalist.
Doch die Maschine kann nach langer Fütterung nur sagen, was der Fall ist und was nicht. Sie bleibt außerstande, mit dem Unmöglichen, dem Wünschenswerten etwas anzufangen. Ihre optimalen Ergebnisse kennen keine Utopie, die über den Informationszählerstand hinausweist. Sie gebiert hinterm Bildschirm Fatalisten. Die leiden vielleicht weniger an der abstrakten großen Zukunftsangst, sondern an »Traumlosigkeit und kaputten inneren Landschaften«.
Im Hinblick auf die moderne Kriegsführung, die in der Ukraine und im Nahen Osten zum Einsatz kommt, nimmt Paoli abschließend die Ideologie des »kleineren Übels« auseinander: Um das Böse zu bekämpfen, das nur Ausrottung und Vernichtung kennen soll, definiert sich der Westen als Festung der angeblichen Zivilisiertheit, die er mit immer effizienteren, optimierten High-Tech-Waffen verteidigt. Das begreift er als »kleineres Übel«. Eine »Normalisierung des Schreckens« bahnt sich an, KI-Kriegsmaschinen optimieren sich, am Ende fühlt sich kein Militär mehr für Tote verantwortlich.
Paoli gelingt mit seinem schmalen Band eine kluge Demontage der Optimismus-Idiotie. Er zeigt, wie sie von christlicher Ergebenheit, neoliberaler Markbrutalität bis hin zu KI-Kriegstreiberei dem Leiden eine Legitimität verleiht. Mit dem Ziel, den Menschen ihren Mut zum Handeln und die Neugier aufs wirklich Unbekannte zu nehmen. Ein erhellender Text in verdunkelten Zeiten.
Guillaume Paoli: Etwas Besseres als der Optimismus. Matthes & Seitz Berlin, 112 S., br., 12 €.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.