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Midlife & Midsize
Es gibt Menschen, die Midlife-Beschuldigungen vehement von sich weisen. Warum eigentlich?
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
ich bin diese Woche 39 geworden, ein Alter, das so langsam unter die Bezeichnung »Mitte des Lebens« fällt. Woher ich das weiß? Täglich werden mir vom allmächtigen Algorithmus Artikel dazu zugespielt. »Das neue Leben ab Mitte 30. Keine Lust mehr auf Sex, Rückenschmerzen, Übergewicht«, heißt einer zum Beispiel. Die Leserkommentare spalten sich in Angeber und Aufgebrachte, erstere schreiben Sachen wie »Ich bin 50, kenne keinen Schmerz und bin ständig am Koitieren« und die zweiten beschweren sich à la: »Was soll das mit der Mitte, 35 ist doch jung!« Mich nerven beide. Erstere erlebe ich ständig bei yoga-ultrafiten und megaschlanken Frauen, die stärker als ich sind, aber dem Alter nach meine Mutter sein könnten und ständig damit prahlen, dass sie täglich Yoga machen. Für Geständnisse anderer Art kennen wir uns glücklicherweise nicht gut genug.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Die Zweiten habe ich in meinem Bekanntenkreis zuhauf, Frauen meines Alters, die Midlife-Beschuldigungen vehement von sich weisen. Warum eigentlich? In Deutschland liegt die Lebenserwartung für Frauen bei 83, für Männer bei 78 (haha). In den USA sind es 82 vs. 77 Jahre ̶ auch hier ein wohlverdienter Fünf-Jahre-Bonus für uns Damen. Die »Lebensmitte« ist ja keine mathematisch festgelegte Zahl, die nur ein Jahr gilt, sondern eine lange Phase, mit der ein ganzer Lifestyle einhergeht. Und die könnte eben schon zwischen 35 und 40 einsetzen, vor allem bei Menschen, die sich immer etwas älter gefühlt haben, als sie tatsächlich sind, wie mir. Aber erst recht bei meinen Bekannten, die viel zu früh ins Bett gehen und das Ausgehen hassen, weil sie, wie sie zugeben, »langweilig geworden sind«. Warum dann nicht den Stempel »mittleres Alter« embracen, wo so was als normal gilt?
Die Hauptcharakteristika der Mittel-Lebensphase sind bei dieser Generation anders als bei den vorherigen. So ist die männliche Midlifecrisis nicht mehr das, was sie einst war: Leder (inhuman), Sportauto (zu teuer) und Affäre mit Sekretärin (hallo, »work from home«!). Dann doch lieber Igel-Stachelbart-Extrakt, Haartransplantation in der Türkei und Sydney Sweenys Badewasser-Seife (da bin ich altmodisch und finde die Affäre anständiger). Bei den Ladies beherrscht die sagenumwobene Perimenopause die Krise, die laut Medien schon bis zu zehn Jahren vor der eigentlichen Menopause einsetzen soll, welche wiederum nochmals durchschnittlich ein Jahrzehnt dauert. Vielleicht sollte man das weibliche Midlife in Menolife umbenennen! Gegen beide muss frau sich mit einem Arsenal an Präparaten wappnen, heißt es. Immerhin werden wir bei den Symptomen ernster genommen als unsere Mütter damals. Immer beliebter in der neuen Lebensphase werden außerdem Mädels-Marathonläufe, Laserbehandlungen und das Anschauen von jeder Fernseh- und Filmproduktion, in der die perückentragende Königin der privilegierten Tussi-Rolle, Nicole Kidman, mitspielt.
Experten sagen übrigens, die Midlife-Phase reiche bis zum Alter von 55 bis 60 Jahren. Wie schaffe ich es, diese Zeit zu genießen, ohne für meine Umwelt unerträglich zu werden? Ich habe da ein Konzept: 1. Seit ich irgendwo las, dass Gefängnisinsassen Routinen lieben, weil ihre Haftzeit ihnen so viel kürzer erscheint, bin ich ein kategorischer Routinehasser und versuche so oft es geht, spontan zu sein. Das wirkt sehr Bohemien, unbeschwert und mysteriös. 2. Keine Floskeln und Alte-Leute-Geräusche! »Ach, die Zeit fliegt!« oder »Der Regen ist gut für die Rosen!« Oder ein leises Stöhnen, bevor man vom Sessel aufsteht? Nicht doch! Ich reiße mich zusammen, solange ich kann und tätige all dies in meinen eigenen vier Wänden. (Denn der Regen ist tatsächlich wunderbar für meine Rosen, welche mein sehr typisches Lieblings-Midlife-Hobby darstellen). 3. Keine corny Paar-Accounts auf Social Media, keine Tattoos à la »meine Kinder sind mein alles«! Einfach so tun, als müsste die Familie einem auf Knien dafür danken, dass man überhaupt da ist. Cool und unbeschwert, wie Nicole Kidman. Die ist übrigens 57 und würde mich bei einem Yoga-Marathon zweifelsfrei fertigmachen.
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