»Eine starke Gewerkschaft ist der einzige Weg im Kampf gegen den Faschismus«

Organizing-Vordenkerin Jane McAlevey über den politischen Druck auf Gewerkschaften und die Überwindung der Spaltung der Arbeiter*innen

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 10 Min.

Bei Ihrem Berlin-Besuch auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben Sie viele Gewerkschaftsaktive getroffen. Wurde Ihnen auch von den Gorillas erzählt?

Leider nein. Was ist das?

Jane McAlevey
Jane McAlevey ist Autorin, Wissenschaftlerin und seit mehr als 20 Jahren Organisatorin von Gewerkschaftskampagnen. Sie lebt in den USA.  2019 erschien von ihr im VSA: Verlag »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing«, herausgegeben von Florian Wilde. Am Freitag erschien von ihr auf Deutsch ebenfalls im VSA-Verlag »Macht. Gemeinsame Sache: Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie«, herausgegeben von der IG Metall Jugend und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Das ist ein Online-Lebensmittelhändler, der den Kunden verspricht, dass Fahrradkuriere ihnen ihre Bestellung innerhalb von zehn Minuten liefern …

Ach diese sogenannte Plattform-Ökonomie. Die Menschen tun immer so, als sei das etwas Neues. Aber für mich ist das einfach nur Kapitalismus, der immer wieder machtlose, prekäre Arbeiter*innen schafft. Wenn man sich die Geschichte der Arbeiterklasse anschaut, dann kam das immer wieder vor. Die Plattform-Ökonomie ist nur die neueste Strategie, den Arbeiter*innen möglichst wenig zu zahlen.

Die Gorillas-Kuriere haben immerhin kürzlich wilde Streiks organisiert, um sich dagegen zu wehren.

Haben sie gewonnen?

Zumindest gründen sie gerade einen Betriebsrat.

Das ist gut.

Trotzdem ist es bezeichnend, dass es Gewerkschaften nur schwer gelingt, einen Fuß in die Internetökonomie zu bekommen …

Das liegt aber nicht allein an der Plattform-Ökonomie. Die Probleme der Gewerkschaften begannen schon vor 25 Jahren.

Wie meinen Sie das?

Die meisten Gewerkschaften in den Industriestaaten haben es sich einfach zu bequem gemacht. Sie sind damit zufrieden, Tarifverträge auszuhandeln und ab und zu mal zu einem Streik zu mobilisieren. Doch sie helfen den Arbeiter*innen nicht, sich wirklich zu organisieren. Und das wäre notwendig, um gegen die ganzen brutalen Konzerne wie Uber, Amazon oder Tesla anzukommen, die in der Zwischenzeit entstanden.

Warum hörten die Gewerkschaften mit dem Organizing, dem offensiven Organisieren der Beschäftigten in den Betrieben, auf?

Zunächst ist es sehr, sehr harte Arbeit. Wenn ich eine Organizing-Kampagne durchführe, dann beträgt mein durchschnittlicher Arbeitstag 18 Stunden. Gleichzeitig muss man ein großes Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiter*innen haben, sich zu Organisieren und wieder an Macht zu gewinnen. Doch gleichzeitig waren die Gewerkschaften - zumindest in den USA - seit Jahren auch von Seiten der Politik unter Druck. Das hat bei ihnen zu einer Bunkermentalität geführt, sodass sie nichts Neues mehr versuchten und nur noch das halten wollten, was sie hatten. Letztlich hat das ihre Lage aber noch weiter verschlimmert.

Warum? Sich auf seine Stärken zu konzentrieren, ist doch erstmal nicht falsch.

Zu glauben, dass man sich darauf konzentrieren muss, was man noch hat, bedeutete für die US-Gewerkschaften, dass sie auf Industrien setzten, die abwanderten, die nach China oder Mexiko gingen, weil die Produktion dort billiger ist. Das selbe Problem haben auch die deutschen Gewerkschaften, wenn die Unternehmen nach Bulgarien oder Ungarn abwandern, weil es dort billiger ist.

Die Globalisierung ist mitverantwortlich für die Schwächung der Gewerkschaften?

Die Globalisierung ist wie die Plattform-Ökonomie kein neues Phänomen. Aber sie führt zu einer Schwächung der Gesellschaft. Zusammen mit dem Fehler, sich einzuigeln, bedeutet die Globalisierung, dass die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften extrem geschrumpft ist. Und je weniger Kraft sie haben, desto schwerer fällt es ihnen, aus diesem Teufelskreis herauszukommen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das Freihandelsabkommen Nafta, mit dem die USA die Globalisierung vorangetrieben hatten, schuld daran ist, dass Hillary Clinton 2016 im sogenannten Rustbelt viele Stimmen an Donald Trump verloren hatte.

Sie hatte vor allem die US-Bundesstaaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania an Trump verloren, weil die Menschen noch wussten, dass ihr Mann 25 Jahre zuvor mit Nafta ihre Leben zerstört hatte. Gleichzeitig nutzte Trump das geschickt aus. Es war schon erstaunlich zu sehen, wie dieser populistische Lügner, dieser geborene Bösewicht, vorgibt, sich für die weiße Arbeiterklasse einzusetzen. Und auch wenn Joe Biden im November 2020 die Präsidentschaftswahlen gegen Trump gewonnen hat, stellen Trump und seine Bewegung noch immer eine ernsthafte, faschistische Gefahr für die Demokratie dar. Wenn man sich die Bilder vom 6. Januar anschaut, wie Trumps Anhänger das Kapitol stürmten, dann sieht man, wie nah die USA an einem Bürgerkrieg sind.

Sind Ihrer Meinung nach die Demokraten dann mitverantwortlich für den Aufstieg der Rechten?

Der Grund für den Aufstieg der Rechten ist die groteske Einkommensungleichheit. Die Arbeiterklasse ist sauer, dass sie abrutscht. Das ist der Grund, warum Trump 2016 die Wahl gewonnen hat, und das hätte auch Bernie Sanders zum Wahlerfolg verhelfen können. Und genau diese Entwicklung, diese wachsende Ungleichheit, ist das Problem der Demokraten in den USA und auch für die Sozialdemokraten in Europa.

Daran sind Demokraten und Sozialdemokraten aber nicht ganz unschuldig.

Diese Entwicklung fing mit Bill Clinton in den USA, mit Tony Blair in Großbritannien und mit Gerhard Schröder in Deutschland an. Auf der einen Seite gaben sich diese Politiker in Bezug auf die sogenannte Identitätspolitik liberal, sie hatten kein Problem mit gleichgeschlechtlicher Ehe oder Abtreibungen, gaben sich antirassistisch. Doch auf der anderen Seite verfolgten sie eine antigewerkschaftliche, neoliberale Wirtschaftspolitik. Da gibt es genügend Studien, dass die Demokraten und Sozialdemokraten, indem sie die Arbeiterklasse im Stich gelassen haben, zum Aufstieg der Rechten beitrugen. Das sieht man auch in Großbritannien mit Boris Johnson und in Deutschland mit der AfD.

Sind die Demokraten mit dem Erfolg von Bernie Sanders nicht nach links geschwenkt?

Natürlich gibt es in der zweiten oder dritten Reihe Menschen wie Alexandria Ocasio-Cortez oder die neue Bürgermeisterin von Bufallo, die offen sozialistisch und eine schwarze Frau aus der Arbeiterklasse ist. Das ist alles sehr spannend, aber grundlegend ändern tut dies an der Politik der Demokraten noch nichts. Sie vertreten hauptsächlich noch immer eine Politik im Interesse des Silicon Valley und der Wall Street. Sie sind eindeutig anti-gewerkschaftlich eingestellt, weil die Gewerkschaften diesen Konzernen beim Machen von noch mehr Profiten im Weg stehen könnten. Und sie haben nur solange nichts gegen People of Color, solange sie nicht mehr Geld wollen.

Wenn die Demokraten und Sozialdemokraten es nicht machen, was kann den Aufstieg der Rechten noch stoppen?

Wir brauchen stärkere Gewerkschaften, wir müssen die Fähigkeit der Arbeiterschaft zum Streiken wieder aufbauen, damit sie auch wieder politisch durchsetzungsfähig wird. Das ist auch der Untertitel meines neuen Buches: »Gewerkschaftliche Organisierung in den USA im Kampf für die Demokratie«. Dafür brauchen wir eine neue Generation an Gewerkschaftern, die verstehen, wie drängend es ist, zu streiken, sich zu organisieren und für bessere Tarifverträge auf der Straße zu kämpfen. Denn ökonomische Ungleichheit ist für mich vor allem auch eine Reflexion von politischer Ungleichheit.

Seit einigen Jahren ist in den USA eine Antifa-Bewegung entstanden, ähnlich wie in Deutschland in den 1990er Jahren. Sollten die Gewerkschaften mit dieser Bewegung zusammenarbeiten?

Natürlich braucht es Menschen, die sich explizit dem Faschismus in den Weg stellen. Ich nenne das eine sich selbst auswählende Bewegung. Doch das reicht nicht aus. Es ist notwendig, dass sich die Arbeiterklasse wieder organisiert und ihre materiellen Bedürfnisse auf den Tisch bringt. Wenn die Menschen ihre Wohnungen verlieren, weil die Mieten in Städten wie San Francisco oder New York explodieren und ihre Jobs immer schlechter werden, dann führt das zum Aufstieg der Rechten. Deswegen ist es eine konstante Herausforderung, die arbeitenden Menschen zu organisieren. Aber das Schöne, das ich in den Jahren meiner Arbeit als Organisatorin erfahren habe, ist, dass sich die Menschen organisieren und kämpfen, wenn man ihnen den Raum dazu gibt.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass man dafür vor allem die Menschen organisieren muss, die Gewerkschaften gegenüber eigentlich sehr skeptisch eingestellt sind …

Ich nenne diese Menschen organische Anführer. Sie sind meist sehr gute Angestellte und arbeiten nah am Management. Ihre Chefs wissen meist, dass sie sie zufrieden halten müssen. Aber wenn man einen Arbeitskampf gewinnen will, muss man diese Menschen auf seine Seite ziehen. Und wenn man es richtig anstellt, klappt es meistens auch.

Was muss man dafür machen?

Erstens muss man ihnen zuhören und darf sie nicht anschreien. Das ist ein Fehler, den linke Aktivist*innen häufig machen. Aber keinem gefällt es, wenn man belehrt wird. Zweitens muss man sie davon überzeugen, dass ihr Chef Teil des Problems, dass er mitverantwortlich für die schlechten Arbeitsbedingungen ist. Zwar nicht persönlich, aber auf einer institutionellen Ebene. Dass der Boss vielleicht nett sein kann, aber auch nur Befehle ausführt, die letztlich von einer großen Vermögensverwaltung kommt, der es am Ende des Tages egal ist, wie es den Angestellten geht. Insofern ist Organizing für mich ein sehr befreiender Prozess, in dem die Menschen dazu befähigt werden, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und am Ende vielleicht verstehen, warum sie sich die Miete in der Innenstadt nicht mehr leisten können, dass es auf der einen Seite eine politische und ökonomische Elite und auf der anderen Seite die Arbeiterschaft gibt, deren Teil sie sind.

Theoretisch könnte man das mit Klasse an und Klasse für sich halten …

Das stimmt. Das war immer der Inhalt meiner Arbeit. Mit Marx beschäftigt habe ich mich erst nach 20 Jahren Organizing im Rahmen meiner Doktorarbeit. Meine Kommilitonen waren ganz schockiert: »Was? Du bist in einer Gewerkschaft und hast noch nie Marx gelesen?«, fragten sie mich.

Und wie war es für Sie als erfahrene Gewerkschafterin Marx zu lesen?

Für mich war das sehr interessant. Zuvor hatte ich 18 Stunden am Tag alle möglichen Arbeiter organisiert und gezeigt, wie sie gegen die Versuche ihrer Chefs ankämpften können, sie anhand ihrer Geschlechter, Hautfarben oder sexuellen Orientierungen zu spalten. Natürlich habe ich da nicht Begriffe wie »die materiellen Bedingungen« benutzt. Ich sagte ihnen einfach: »Eure Chefs wollen euch verarschen. Ihr müsst schauen, wie ihr sie veraschen könnt. Und euer Chef braucht nur eine Sache von Euch: Dass ihr zur Arbeit erscheint.« Aber auf eine Frage hat Marx keine Antwort, und das ist eine entscheidende.

Die wäre?

Marx gibt einem keine Antwort, wie man die Arbeiter organisiert. Er schreibt nur, dass sie sich irgendwann erheben werden. Aber so einfach ist das leider nicht.

In Deutschland arbeitet die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi mit der Klimabewegung Fridays for Future zusammen. Sollten Gewerkschaften politischer werden?

Auf jeden Fall. Die Frage ist aber, wie. Aufrufe zu unterschreiben oder Kampagnen für mehr Klimaschutz von oben nach unten durchzuplanen reicht nicht aus. Nötig sind ernsthafte Diskussionen mit und unter den Belegschaften, dass die Klimakrise real ist, dass etwas dagegen gemacht werden muss, dass eine Industrie, die auf die Verbrennung von fossilen Energieträgern aufbaut, geschlossen werden muss, dass es dafür aber zum Ausgleich gut bezahlte, neue Arbeitsplätze braucht.

Hierzulande gibt es eine Diskussion über den angeblichen Widerspruch zwischen Klassen- und Identitätspolitik. Aber eigentlich geht doch das eine nicht ohne das andere?

Natürlich. Wenn man sich die Geschichte der US-Arbeiterbewegungen in den 1930er und 40er Jahren anschaut, dann ging es dabei immer darum, die Spaltung zwischen der schwarzen und weißen Arbeiterschaft zu überwinden. Und darum geht es noch immer.

Sind Sie optimistisch, dass das auch gelingt?

Ja. Erstens liegt das in meiner Natur als Organizerin, zweitens in meiner Erfahrung mit ehemaligen Trump-Wählern. Und die habe ich nicht davon überzeugt, dass Trump schlecht ist, indem ich sie anschrie. Ich habe ihnen nicht gesagt, dass sie sich mal mit ihrem Sexismus und Rassismus auseinandersetzen müssen. Stattdessen habe ich ihnen gesagt: Wenn du in deinem Betrieb etwas durchsetzen willst, dann musst du zusammen mit deinen schwarzen, schwulen, lateinamerikanischen Kollegen dafür kämpfen. Und so hilft man ihnen zu verstehen, dass, wenn sie als Weißer eine Rente haben wollen, schwarze Arbeiter das Recht haben wollen, nicht von ihrem weißen Vorgesetzten drangsaliert zu werden. Und die Lösung für alle ihre Probleme ist dieselbe: Eine starke Gewerkschaft aufbauen. Und das ist der einzige Weg im Kampf gegen den Faschismus.

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