Jugendliche fragen oft: »Ist das normal?«

Für Schüler*innen ist das Thema Sex im Alltag überpräsent. Sie bekommen ihre Informationen schon lange nicht mehr nur aus der Schule, sondern auch über soziale Medien und Pornos

  • Julia Trippo
  • Lesedauer: 6 Min.

Frau Vogt, Sie sind Sexualpädagogin und oft an Schulen unterwegs, um mit Jugendlichen über Sexualität zu sprechen. Wie läuft sexuelle Bildung in Schulen generell ab?

Das Thema Sexualität ist im Lehrplan verortet unter Schwangerschaft, Verhütung, Anatomie und das war es schon fast. Themen wie Lust, eigenes Erleben, Grenzen wahrnehmen oder unterschiedliche Beziehungsformen kommen überhaupt nicht zum Tragen. Im Lehramtsstudium findet das Thema Sexualität wenig bis gar nicht statt. Es gibt vereinzelt Seminare, die man freiwillig belegen kann. Das heißt, Lehrkräfte kommen mit dem Thema überhaupt nicht in Berührung, wenn die sich nicht selbst aktiv dafür interessieren und weiterbilden möchten. Ich glaube, dass es für viele Lehrkräfte schwierig ist, über intime Dinge zu sprechen. Das kann ich auch gut nachvollziehen, muss man auch nicht. Aber die meisten wissen auch gar nicht, an wen sie sich dann wenden können. Aber ich erlebe auch ganz tolle, motivierte Lehrkräfte, die das Thema für wichtig erachten und gerne behandeln. Es gibt keinen richtig einheitlichen Kurs, was das angeht.

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Welche Rückmeldung bekommen Sie von den Jugendlichen in den Schulen?

Die sind wirklich dankbar, dass jemand ihre Fragen beantwortet und sie alles fragen dürfen. Es kommt auch oft die Rückmeldung: »Können wir das nicht nochmal machen?« Ich sage dann immer, sie müssen mit eurer Schule sprechen, ich komme gerne nochmal! Das ist letztendlich eine politische und auch eine Kostenfrage. Schulen haben dafür meistens kein Geld und das Thema sexuelle Aufklärung ist auf deren Prioritätenliste ganz weit unten. Und gerade jetzt in Coronazeiten haben Schulen ganz andere Sorgen.

Und was sind die großen Fragen, die Jugendliche beschäftigen?

Ich bin vor allem in 8. Klassen und da sind die brisantesten Themen so Körpersachen, Menstruation. Ich werde ganz oft gefragt: »Ist das normal? Bin ich normal?« Dann auch alle Themen rund um das »Erste Mal«, verliebt sein, sexuelle Vielfalt, Beziehungen, Freundschaftsthemen oder Eifersucht. Durch die sozialen Medien werden auch Themen wie Formen von sexualisierter Gewalt in den Fokus gerückt und Fragen rund um Ungerechtigkeiten: »Warum haben denn Mädchen Angst, wenn sie im Dunkeln nach Hause gehen und Jungs nicht?«

Wie sprechen Sie mit Jugendlichen über Grenzen und Consent?

In Gruppenarbeit werden Werte und Vorstellungen von Beziehungen erarbeitet und ausgewertet. Da entstehen spannende Diskussionen auch innerhalb einer Gruppe. Das kann man auch in einen sexuellen Kontext setzen. Fragen wie: »Was ist okay? Wo fängt grenzüberschreitendes Verhalten an?« Aber diese Dinge kommen natürlich oft zu kurz, wenn man nur für einen Tag in einer Klasse ist, meistens sind es nur zwei bis vier Schulstunden.

Und das Thema Sexualität und Grenzen beginnt auch nicht erst mit der Pubertät. Kinder sollten von klein auf lernen »Nein« sagen zu dürfen und gleichzeitig die Grenzen von anderen zu akzeptieren. Das fängt schon damit an, ob ich ein anderthalbjähriges Kind auf den Arm nehme und abknutsche oder davor einfach frage. Das signalisiert Kindern, dass sie eine Wahl haben und auch Macht über den eigenen Körper. Ich glaube, wenn Kinder mit so einer Haltung aufwachsen, dass es auch im Jugendalter einfacher ist, Grenzen zu setzen.

Haben Kinder, die aus Familien kommen, wo aus verschiedensten Gründen nicht über Sex geredet wird, besonders viele Fragen?

Das ist sehr individuell. Ich erlebe generell einen Unterschied zwischen dem ländlichen Raum und dem städtischen Raum oder auch in der Schulform. An Gymnasien sind die Schüler*innen super fit was sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentitäten angeht. Die kennen sich gut aus; auf einer sehr akademischen Ebene. An Haupt- und Realschulen ist das anders. Da herrscht zwar schon eine Akzeptanz dafür, aber oft können sie das nicht so gut nachvollziehen oder verstehen.

Wie wird denn in der sexuellen Bildungsarbeit mit verschiedenen Formen von Sexualität umgegangen? Gibt es genug Raum für queere Kinder?

Ich kritisiere oft, dass sexualpädagogische Lehrmaterialien sehr weiß und sehr heterosexuell sind. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel hat zeitweise Materialien herausgegeben, die echt unterirdisch waren. Da war noch die Rede von Jungfernhäutchen und so. Es fehlte lange an Angeboten. Mich stört, dass queere Sexualität oft als Extra-Thema behandelt wird. Man muss queere Beziehungsformen und queeres Begehren von Anfang an mitdenken! Das darf nicht so einen Sonderstatus genießen.

Die Orgasmus-Ungleichheit: Frauen haben im Durchschnitt deutlich weniger Orgasmen als Männer. Besonders betroffen sind Frauen in heterosexuellen Beziehungen.

Welche Rolle spielt das Internet als Informationsquelle?

Im Internet passiert ganz viel, TikTok und Instagram sind da gleichermaßen Gefahr wie auch Potenzial. Da gibt es tolle, wertvolle Informationen, die Jugendliche sich daraus ziehen können, aber natürlich auch viel Schrott.

Was denn zum Beispiel?

Toxische Beziehungsweisen werden da ganz viel thematisiert. Ein klassisches Beispiel: In einer Beziehung muss man eifersüchtig sein, sonst liebt er*sie dich nicht. Es geht aber auch anders: Neulich hat mir in einer Mädchengruppe eine Jugendliche erklärt, dass die Klitoris viel größer ist, als man denkt. Das hat sie in einem TikTok-Video gelernt und den anderen dann auch noch erklärt. Die Jugendlichen kriegen ihre Informationen also auch ohne uns.

Nur halt ungefiltert.

Genau.

Wie ist das mit Pornos? Ist das auch eine große Gefahr, die aus dem Internet kommt?

Pornos sind nicht per se eine Gefahr für Jugendliche. Es geht darum, dass sie einordnen können, was sie da sehen. Ähnlich wie mit einem Actionfilm, da wird Kindern und Jugendlichen auch nicht erklärt, dass nicht alles echt ist und Effekte benutzt werden. So ist es mit Pornos auch. Da wird viel getrickst und bestimmte Körperbilder abgebildet. Aber es gibt ja auch feministische Pornos, die ich zum Beispiel für 16-Jährige nicht unbedingt für schädlich halte. Da könnten sie vielleicht auch lernen, wie Sex aussehen könnte.

Wo können sich Eltern Unterstützung suchen?

Wenn Eltern eine Sprachunfähigkeit erleben, gibt es tolle Aufklärungsbücher für sie selber und für junge Menschen. Die können die Erwachsenen kaufen und irgendwo hinlegen, wo es sich die Jugendlichen nehmen können und mal blättern können, unentdeckt. Und es gibt einige Internetseiten: Von Pro Familia gibt es eine Jugendseite und die Jugendzeitschrift »Bravo« hat tatsächlich mittlerweile einen ganz guten Online-Auftritt. Es gibt vereinzelt auch gute Bildungsformate auf Youtube, »Auf Klo« zum Beispiel, das ist aber natürlich nicht rein sexualpädagogisch. Leider hat meiner Meinung nach die Sexualpädagogik etwas verpasst, auf den digitalen Zug der Nutzung von Social Media aufzuspringen.

Debora Vogt ist Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin. Außerdem ist sie Gründerin und Projektkoordinatorin des sexualpädagogischen Aufklärungsmagazins BÄNG und seit Februar 2021 die eine Hälfte des Podcasts Kaffee&Konsens. Mit ihr sprach Julia Trippo.

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